Waffenstillstand

Anlässlich der Veröffentlichung seines neuen Albums „Lupercalia“ gastierte der Londoner Ausnahmekünstler und bekennender Wien-Liebhaber Patrick Wolf im WUK und gab The Gap ein Interview.

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Bereits mit 27 Jahren hat Patrick Wolf das geschafft, das nur wenige Künstler von sich behaupten können: sich eine unverwechselbare doch stets wandelbare Identität angeeignet, bei der gängige Kategorisierungsbegriffe an ihre semantische Grenzen stoßen. Mit seiner Mischung aus Folk, Electronic und Indie avancierte der Multiinstrumentalist mit irischen Wurzeln zu einem der aufregendsten Neuentdeckungen der alternativen Popmusik.

In den vergangen Jahren wurde man Zeuge einer unvergleichlichen Metamorphose: aus der kargen Isolierung und Einsamkeit des Verstoßenen, für den es keinen Platz in dieser Welt zu scheinen gab, erzwang ein unstillbarer Drang nach Ausdruck die Geburt eines schillernden Chamäleons, das sich mit jedem weiteren Werk der Herausforderung stellt sich neu zu definieren. Die quälende Weltflucht wich einer alles umarmenden Lebensfreude. So ist es nur nachvollziehbar, dass für den sensiblen Poeten ehrliche Musik nur aus dem tiefsten Herzen geschrieben werden kann. Auf dieser abenteuerlichen Reise zur Selbsterkenntnis stehen ihm übersinnliche Stimmen im Kopf, der Klang fremder Kulturen und die Tatsache bis über beide Ohren verliebt zu sein inspirierend zur Seite.

Am 8.4. gab er im Wiener WUK eine exzentrische Show voller Theatralik und herzerweichender Melodien. Grund genug, den charismatischen Singer-Songwriter zum Gespräch einzuladen, in dem er offen über die Macht der Liebe und den Wundern des alltäglichen Lebens plauderte.

Die Single „The City“ beinhaltet all das, was einen erfolgreichen, klassischen Popsong ausmacht. Das Lied ist euphorisch und drückt eine ungeheure Lebensfreude und Intensität aus. Was sind deiner Ansicht nach die essentiellen Zutaten für einen perfekten Popsong?

Ehrlichkeit. Man sollte Musik nicht machen nur um Geld zu verdienen. Ich denke, dass die größten Popsongs eine menschliche Qualität besitzen und aus dem verzweifelten Verlangen zu kommunizieren geschrieben worden sind. Natürlich ist meine Vorstellung von einem guten Popsong ganz anders als jene von Usher, doch heutzutage sollte ein Popsong eine Botschaft in sich tragen, bei der es nicht nur darum geht Reichtum, Wohlstand, Status und Überlegenheit zu zelebrieren. Ein Popsong soll dir das Gefühl von Freiheit geben und dich verändern. Ein Popsong ist dann gelungen, wenn es zu einer Veränderung in deinem Herzen kommt. Außerdem soll Popmusik den Menschen helfen, wenn sie Unterstützung brauchen. Natürlich nicht in einer bevormundenden Art und Weise, dass du dich ändern musst, aber wenn du offen dafür bist, dann kannst du mit Musik deine Probleme wegtanzen oder sie durch die Musik verarbeiten.

„The City“ stellt ein dominantes Thema in „Lupercalia“ dar. Welche Rolle hat die Metapher der Stadt beim Songwriting gespielt?

Das Thema ist eng verbunden mit Liebe und bezieht sich direkt auf meine Wohnung in London, die ich nun bereits seit zwei Jahren habe. Wenn ich von der Tour nach Hause komme, bin ich im Herzen der Stadt und sehe die vielen Unruhen und die ständigen Tumulte. Ich weiß, dass es im Vergleich zum mittleren Osten Nichtigkeiten sind – es ist ein totales Paradies und wir haben es so viel einfacher in der westlichen Welt. Dennoch herrscht zurzeit eine eigenartige Ruhelosigkeit in der Regierung und so wurde durch Immigration die Struktur der englischen Gesellschaft sehr zerrissen.

Die Leute haben kein Verständnis für andere Religionen und es scheint als würden die Menschen nicht mehr zusammenkommen, jeder lebt in Angst vor dem anderen und so bekämpfen sie sich gegenseitig. Leider scheint die Situation immer schlimmer zu werden.

Engländer akzeptieren keine neuen Kulturen, doch ich fühle ganz anders, da ich selbst Ire zweiter Generation bin. In den Sechzigern wäre es mir nicht möglich gewesen eine Wohnung zu mieten, ich wäre ein Außenseiter gewesen. Obwohl ich in London geboren bin, fühle ich mich in der Stadt als Immigrant.

Das neue Album soll jene kulturelle Unruhe ausdrücken. Mit dem arabischen Gesang oder dem Duduk, eine armenische Flöte, habe ich versucht mehr Empathie einzubringen und verschiedene Musikrichtungen zusammenzuführen; Dinge, die Menschen eigentlich tun sollten. Es ist wichtig jene kulturellen Unterschiede und die Veränderungen innerhalb der eigenen Kultur anzunehmen. Die Auswahl der Instrumente soll definitiv jene kulturelle Botschaft unterstreichen.

Als Künstler ist es wichtig innovativ zu sein und mit jedem neuen Album wird erwartet, dass man etwas Neues und Originelles schafft und dennoch sich selbst und seiner Künstlerpersönlichkeit treu bleibt. Welche Einflüsse haben dir geholfen als Künstler zu wachsen und den Schritt von „The Bachelor“ zu „Lupercalia“ zu gehen?

Zeit, Raum und Liebe. Die Zeit als Teenager zu wachsen, und aus einem Anfang-Zwanzigjährigen ein junger Mann zu werden. Die Zeit, in der ich im Studio gearbeitet und experimentiert habe. Die Momente, in denen ich mich selbst erklären musste; nicht so sehr meine Arbeit vielmehr musste ich mich selbst, mein Aussehen und mein Tun, rechtfertigen.

Die Leute haben absolut keine Ahnung, sie stecken dich einfach in die Schublade des Freaks, in der du schon seit der Schule warst. Diese Schublade kann auf gefährliche Weise sehr komfortabel werden, da du dich daran gewöhnst und glaubst, dass dies dein Platz in der Welt ist, wo du nun mal hingehörst. Als ich jedoch meinen Partner William kennengelernt habe, hörte ich mit all den Dingen auf, die ich machte als ich noch Single war, da ich auf einmal eine neue Verantwortung hatte. Es ist dasselbe als würdest du einem Kind das Leben schenken. Du hast nun ein anderes Leben für das es sich lohnt zu leben. Ich fand das sehr faszinierend und habe mich zu hundert Prozent in die Sache gestürzt, da ich auf einmal etwas anderes als Musik hatte, für das ich leben wollte. Und ich denke, dass diese Erfahrung sehr gesund für mich war, zum einen als Mensch und zum anderen als Künstler.

Ich hatte eine neue Inspiration, etwas Neues worüber ich schreiben konnte, das mein ganzes Weltbild verändert hat. Jemand, der plötzlich auftaucht und einem hilflosen Kind Selbstbewusstsein, Liebe und Leben gibt. Dieses Gefühl wollte ich meinen Hörern und der Welt vermitteln. Eine einzige Person kann dir helfen zu verstehen, dass es immer Menschen geben wird, die dir helfen und dich lieben. Sie holen dich aus deiner Höhle heraus und zeigen dir, dass die Welt auf dich wartet um das Leben mit dir zu genießen.

Bevor du anfängst an neuem Material zu arbeiten, hast du bereits eine Idee, oder eine genaue Vorstellung, von dem Sound, den du auf der neuen Platte verwirklichen möchtest oder entwickelt er sich meist spontan während des Arbeitsprozesses?

Jedes Album war anders. Manchmal habe ich dieses übersinnliche Geräusch in meinem Kopf, das nicht weggeht, bis ich es im Studio rauslasse. Zum Beispiel das „Wind In The Wires“-Album entstand auf diese Weise. Ich habe zwei Jahre daran gearbeitet und hatte ständig diese Radiostimme in meinem Kopf, die mir sagte wie ich jene Traurigkeit, jenes unheimliche, gespenstische Geräusch zum Ausdruck bringen kann.

Manchmal habe ich eine genaue Vorstellung und sie hilft dir, wenn du ins Studio gehst, denn du weißt ganz genau, was du machen möchtest. Mit diesem Album war es anders; die Songs waren zuerst da. Ich habe mich bewusst dazu entschieden nicht im Studio zu schreiben. Ich wollte zu Hause schreiben, somit sind die Lieder sehr persönlich geworden. Auf diese Weise geht das Schreiben direkt in die Texte, Melodien und Harmonien über.

Die Musik spricht über die Welt, die dich umgibt, und nicht über Dinge, die du versuchst vom Studio zu projizieren. Es geht weniger um die Weltflucht als vielmehr um das alltägliche Leben. Ich habe den Computer über ein Jahr lang nicht angerührt, ich wollte nicht in die Nähe davon kommen, denn wenn ich eine Idee hatte, setzte ich mich ans Klavier. Es war ein sehr direkter Zugang zur Musik, ich musste keinen Computer einschalten oder über den Sound nachdenken. Die Aufnahmen liefen sehr methodisch ab, erst dadurch hat das Album sein organisches Herz bekommen.

Manchmal waren die Aufnahmen auch sehr schmerzvoll, lange Studiotage stellen eine andere Art von Anstrengung dar. Es fühlte sich viel mehr wie ein Maler an, der an seinem hundertsten Gemälde arbeitet, im Gegensatz zu jemand, der erst sein erstes Werk skizziert. Ich wusste, was ich machte, worauf ich achten musste, sei es bei Fehlern oder im Bezug auf die Zusammenarbeit mit anderen Menschen. Es ist einfach alles besser verlaufen.

Im Lied „House“ erwähnst du den walisischen Dichter Dylan Thomas und den Iren William Butler Yeats. Was ist deine Verbindung zu den beiden Poeten und sind Gedichte generell eine Inspirationsquelle für dein eigenes Songwriting?

Für mich steht Dylan Thomas, sein Name und seine Gedichte, für eine tiefe, poetische Sensibilität. Jemand, der Natur kennt und der weiß, was Traurigkeit und Glück bedeutet. Jemand, der wahrhaftig gelebt und eine alte Seele hat. Und das im Gesicht eines anderen Menschen zu sehen, macht dir bewusst, dass vor dir eine tiefgründige, komplexe und wunderschöne Persönlichkeit steht.

William Butler Yeats, auf der anderen Seite, ist extrem anmutig und souverän und dennoch leidenschaftlich. In dem Text habe ich zwei meiner Lieblingsdichter in das Gesicht einer Person projiziert und du erkennst all jene Dinge, die du normalerweise in Gedichten schätzt, in der einen Person.

Wenn ich auf Tour gehe, dann nehme ich mir immer Gedichte mit. Zurzeit lese ich das Patti Smith Buch, das sie mir persönlich gegeben hat. Ich habe schon Ewigkeiten keinen Roman mehr gelesen, weil das Leben während der Tour sehr fragmentiert ist. Du hast nur wenig Zeit für dich selbst um dich zu inspirieren, deshalb sind Gedichte und Kurzgeschichten ideal.

Deine Texte sind sehr intim, man hat das Gefühl, dass jedes Wort aus einer persönlichen Lebenserfahrung stammt. Somit gewährst du dem Hörer einen Einblick in dein privates Leben und in deine Persönlichkeit. Wie und wann hast du jenes Selbstbewusstsein entwickelt dich selbst zum Gegenstand deiner Kunst zu machen; oder Privates in der Öffentlichkeit zu zeigen?

Eigentlich seit meiner Kindheit. Es gibt eine Geschichte über die Geburtstagsfeier meiner Schwester als sie acht Jahre alt war und zu der ich nicht eingeladen wurde. Aufgrund dessen zog ich mich nackt aus und rannte durch die Party und brachte damit alle zum Weinen.

In mir gibt es den natürlichen Drang zu kommunizieren und mit zehn Jahren begann ich damit zu kämpfen. Als ich einmal Radio hörte, entdeckte ich eine Band namens Minty, die Musiker und Performancekünstler waren, und deren Auftritte eine reine Form von Kommunikation waren. Alles ging um das Kommunizieren mit deinem Körper. Zu dieser Zeit habe ich bereits Musik geschrieben, doch mir fehlte es an Selbstbewusstsein. Ich wurde in der Schule gemobbt und hatte das Gefühl, dass ich nicht zu dieser Welt gehörte, doch dass es noch eine andere Welt geben musste, die anders war als jene, in der ich lebte.

Und so gab es plötzlich Menschen, die ihre eigene Gesellschaft und eigene Kultur schafften. Ich glaube, dass diese Menschen mir das Selbstbewusstsein gaben mich zu entfalten und (in den Augen der Anderen) skandalös zu sein und nicht mehr darüber nachzudenken wie ich aussehe oder spreche.

Du kannst in deinem alltäglichen Leben alles sein, was du möchtest. Mit elf wussten meine Eltern nicht einmal, dass ich Musik machte und in London ausging – ich war ein Ausreißer. Erst im Alter von sechzehn habe ich bewusst Texte geschrieben. Ich las ein Interview von P.J. Harvey, in dem sie meinte, dass sie weitaus mehr Zeit damit verbringt Texte zu schreiben als im Studio zu arbeiten und Musik zu machen. Ich ging niemals in eine Songwriter-Schule, wie es viele andere machen, ich bin alleine mit meiner Arbeit.

Dann entdeckte ich die Werke von Johnny Mitchell und die Bücher von Angela Carter, Kurzgeschichten und kleine Dinge, die ich verstehe konnte, und begann im Englischunterricht aufzupassen. Mir wurde klar, dass ein Sänger und Songwriter ein Geschichtenerzähler ist.

Aber es gibt so viele verschiedene Arten von Geschichtenerzähler: ich wollte jemand sein, mit dem man sich sofort emotional und persönlich verbunden fühlt. Ich werde nie etwas machen, dass nicht aus meinem tiefsten Herzen kommt. Und dieses Selbstbewusstsein hatte ich bereits durch jenen Gedanken, dass ich in dieser Welt alles machen kann, was ich möchte, und es mir egal ist, ob es irgendjemanden gefällt oder nicht.

Ich kann ein Lied über etwas Schreckliches, das mir im Leben passiert ist, schreiben und ich kann daran festhalten, daran glauben und auch wenn ich damit nur zwei Menschen inspiriert habe und tausende es hassen, habe ich zumindest zwei Menschen berührt.

Du hast nie davor zurückgeschreckt dich als Popkünstler zu bezeichnen und du hast dabei eine einzigartige Version von Popmusik kreiert. Wolltest du eine eigene Definition von Pop kreieren?

Ich denke immer noch, dass es auch für mich einen Platz in der Popmusik und im Mainstream gibt. Und ich glaube immer noch, dass ich noch lange nicht dort bin, wo ich in zehn Jahren sein werde. Ich wurde geboren mit der mich antreibenden Ambition etwas in der Welt zu machen und mir wurde klar, dass dies Musikmachen ist – dass Menschen meine Lieder hören. Ich habe erst letzte Woche erfahren, dass meine Single „The City“ zum beliebtesten Song auf Radio 2 gewählt wurde, womit ich überhaupt nicht gerechnet habe.

Aber dann gibt es auch die andere Seite in mir, bei der ich das nur machen möchte ohne mich selbst zu kompromittieren wie ich mich anhöre, wie ich schreibe, wie ich produziere oder wie ich aussehe. Damit habe ich es mir natürlich nicht sehr leicht gemacht. Ich kann mich glücklich schätzen über das Publikum, das ich habe, denn so kann ich ohne weiteres auf diesem Level für mein restliches Leben stehen bleiben, kann jedes Jahr diese Tour machen und wäre der glücklichste Mann auf dieser Welt.

Treffenderweise wurde Patrick Wolfs Konzert wenige Stunden nach dem Interview mit dem ergreifenden „Armistice“ eröffnet und Patrick Wolf ließ keinen Zweifel darüber, dass der einstig Getriebene, auf der Suche nach Glück, zur Ruhe gekommen ist.

"Lupercalia" von Patrick Wolf erscheint am 17.6. via Universal.

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