Kontinuität

Im Zuge ihres fulminanten Konzertes im Wiener Gasometer am 8. März und ihrem weltweiten Status als Retter des Post-Punks, sprach Schlagzeuger Jack Lawrence-Brown über Kreativität unter Zeitdruck, vom Erwachsenwerden und ihrer Zukunft als Akustikband.

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"Bored girls and sad boys/ dull roads to anywhere/ bad sex and ethanol/ high scores on solitaire." Bereits in "Ritual" gewährten uns White Lies intime Einblicke in den einsamen, monotonen Touralltag. Dies macht neugierig mehr über eine Band zu erfahren, die sich im März 2011 auf einer ausgedehnten Europatour befindet.

Bereits mit ihrem Debütalbum „To Lose My Life“ gelang White Lies in kürzester Zeit sich zu einem nicht mehr wegzudenkenden Fixpunkt der britischen Rockszene zu entwickelt. Dies ist mehr als nur erstaunlich, macht man sich die erst junge Bandgeschichte des Londoner Trios bewusst. Ihre anfänglichen Indiewurzeln hinter sich gelassen, stand der prägnante Name White Lies für ihre bestandene Reifeprüfung.

Kritikern wurde schnell klar, dass diese Band anders ist. Ihre Texte erschlossen die dunklen Seiten des menschlichen Daseins – Todesangst, hoffnungslose Liebe und Selbstzerstörung –, die in hymnischen Melodien zu großer Feierlichkeit getragen werden. Dies war Grund genug um die New Wave Schublade zu öffnen, um einen Vergleich zu den wohl innovativsten Vertreter jenes Genre, Joy Division, aufzustellen, von dem sich White Lies bis heute nicht emanzipieren konnte. Doch Fakt ist, dass White Lies eine klare Vorstellung von dem haben, wer sie sind: ernstzunehmende, disziplinierte Musiker, die, mit offenen Augen und Ohren, traditionellen Rock spielen ohne dabei sich selbst allzu ernst zu nehmen.

So erklärt Drummer Jack Lawrence-Brown im Interview wie man mit einer simplen Namensänderung eine ganze Musikindustrie austricksen kann und warum die Farbe schwarz zu ihrer größten Jugendsünde zählt.

Der Titel eurer neuen Platte lautet „Ritual“. Im spirituellen Sinne, wird der Begriff als eine nach bestimmten Regeln ablaufende, symbolträchtige Handlung definiert. Weist eure Musik ein spezielles Ritual auf? Oder anders ausgedrückt: Was sind die essentiellen Elemente eurer Musik, durch die erst der typische White Lies Sound entsteht?

Sicherlich gibt es Elemente, die immer vorhanden sind und dadurch einen klar definierten Sound schaffen. Sie machen White Lies zu der Band, die sie ist. Jedoch weiß ich nicht, ob das wirklich als Ritual bezeichnet werden kann. Zum Beispiel stellt Harrys Stimme eine Konstante dar, die sich nie ändern wird. Sie wird immer jenen Klang haben; es ist etwas ganz Natürliches.

Rituale im Studio beziehen sich meistens darauf immer denselben Sound zu erzeugen. So muss das Schlagzeug sich bei jeder Aufnahme immer gleich anhören. Es sind jene kleinen, mühsamen Rituale wie das Abmessen von Abständen; all jene langweiligen Dinge, über die Produzenten es lieben sich zu unterhalten.

Ich glaube, Rituale innerhalb der Band beziehen sich hauptsächlich auf das Touren. Wir betreten nie die Bühne ohne vorher eine große Gruppenumarmung zu haben. Es ist eine nette Geste und hilft sich zu fokussieren und sich auf die Show vorzubereiten. Touren an sich ist ein komisches Ritual: du wachst jeden Tag in einer anderen Stadt auf, du stolperst zu Mittag aus deinem Bett, machst dir Toast und Kaffee und gehst deinen alltäglichen Dingen nach. Natürlich ist es nicht das Gleiche als würde man einen Job in London haben – aufstehen, zur Arbeit gehen und nach Hause kommen – aber, auf eine komische Art und Weise, sehe ich das Musikmachen als einen richtigen Job an, wo es bestimmte Dinge gibt, die sich nicht ändern und immer gleich bleiben.

Ihr habt das neue Album „Ritual“ in einem Zeitabschnitt von nur wenigen Monaten aufgenommen. Ihr wolltet die Platte ohne Verzögerung, in einem durch, aufnehmen. Was ist der Vorteil dieser Arbeitsweise?

Für uns ist das die Art und Weise wie Alben gemacht werden sollten. Wir mögen Alben, die in ihrem Sound eine gewisse Kontinuität aufweisen, sodass du beinahe hören kannst an welchem Ort die Platte produziert wurde. Dieses Gefühl hast du vor allem bei vielen Platten der 60er und 70er Jahre.

Auch heutzutage gibt es viele Leute, die diese Meinung teilen, und nicht einfach ihre Lieblingsnummer von einem Album runterladen. Wir besitzen immer noch Schallplatten; denn um die Gesamtheit eines Albums zu verstehen, muss man es kaufen und von vorne bis hinten anhören. In diesem Bewusstsein, versuchen wir erst gar nicht während der Tour Songs zu schreiben, dadurch kann der Schreibprozess gar nicht unterbrochen werden – du schreibst dort ein Lied und nimmst es dann in einem anderen Land auf – das ist definitiv nicht die Art und Weise wie wir arbeiten wollen. Das würde zu einer Disharmonie innerhalb der Platte führen. Wir wollen ein Album machen, das sich problemlos vom ersten Lied bis zum Letzten anhören lässt.

Kann „Ritual“ als ein Konzeptalbum bezeichnet werden?

Ich denke nicht, dass wir versuchen Konzeptalben zu machen. Aber wenn du ein Album in einem zeitlich eingeschränkten Zeitraum produzierst, dann ist es unvermeidbar, dass bestimmte Themen immer wieder auftauchen. Das kann dazu führen, dass es sich wie ein Konzeptalbum anhört.

Bei unserer ersten Platte waren alle auf das Todesmotiv fixiert und haben es sehr düster aufgefasst. Ich denke, das hatte damit zu tun, dass alle Texte in nur sechs Wochen geschrieben worden sind, da wir eben intensive, konzentrierte Schreibphasen mögen. Genauso wie „Ritual“ war auch unser erstes Album nicht als Konzeptalbum gedacht.

Eine sehr bekannte Textstelle von euch lautet: „Let’s grow old together and die at the same time“. Was denkst du sind die Gründe, warum Hörer dazu neigen sich mit jenen dunklen Themen zu identifizieren?

Vor allem dieser Song wurde sehr oft missverstanden und fälschlicherweise als depressiv und suizidär interpretiert. Tatsächlich ist die Idee dahinter viel romantischer. Es handelt darüber jemanden so sehr zu lieben, dass man den Gedanken an ein Leben ohne jene Person kaum ertragen kann. Ich finde diesen Gedanken nicht wirklich deprimierend.

Wir haben oft das Problem, dass die Leute uns als pessimistische und niedergeschlagene Menschen wahrnehmen, die wir im realen Leben gar nicht sind. Du erfährst mehr von uns als Mensch, wenn du auf einem unserer Konzerte bist, als wenn du nur unser Album hörst. Soweit ich es mitbekomme, habe ich noch nie eine Person im Publikum gesehen, die total sauer oder traurig ausgesehen hat. Wir definieren uns als eine Rockband und für uns soll eine Rock Show, trotz der schwermütigen Texte, ein aufregendes und erheiterndes Erlebnis sein. Ich glaube, dass wir als Band viel dazu gelernt haben, sodass die Leute das Konzert viel glücklicher verlassen als sie gekommen sind, obwohl sie für eineinhalb Stunden Lieder über Tod, Liebe und Verlust gehört haben. Es geht vielmehr um die Emotionen und weniger um die dunklen Themen.

Da ihr nur wenige Monate am neuen Album gearbeitet habt, würdet ihr euch eher als Live- oder doch als Studioband bezeichnen?

Für uns sind dies zwei komplett unterschiedliche Dinge. Im Studio arbeitet jeder für sich, jeder von uns drei sieht sich als eigenständiger, individueller Musiker. Das heißt, jeder von uns hat seine eigenen Ideen darüber was er erreichen und in welche Richtung er gehen möchte. Das Album entsteht durch die Zusammenarbeit zwischen uns dreien und dem Produzenten, es muss Schritt für Schritt erarbeitet werden.

Die Arbeit im Studio ist wissenschaftlicher. Auf Tour ist es wie in einer Familie, einer kleinen Gang. Acht Monate im Jahr hängt man mit denselben Personen ab, dadurch entsteht eine sehr enge und intensive Bindung. Ich glaube, dass wir in beiden Bereichen, Studio und Tour, schon viel Erfahrung gesammelt haben, doch im Moment sind wir vollständig auf das Touren eingestellt und konzentrieren uns darauf gute Shows in Europa zu spielen um unsere Fangemeinde hier stetig zu erweitern.

Wenn ihr im Studio an neuem Material arbeitet, berücksichtigt ihr dabei schon wie ihr, als Dreimannband, die Songs live auf der Bühne umsetzt? Spielt die Live Performance beim Schreiben der Lieder eine Rolle?

Gar nicht. Als wir das erste Album fertig geschrieben hatten, erkannten wir, dass es für uns drei unmöglich ist die Lieder live zu spielen. Wir mussten einen Keyboarder für die Konzerte dazu holen. Nach dem zweiten Album wurde uns erneut klar, dass es selbst für vier Musiker nicht möglich ist die Platte auf der Bühne zu spielen; also haben wir einen Gitarristen aufgenommen. Nun sind wir zu fünft auf der Bühne.

Eigentlich ist das total dumm von uns und wir sollten den Live-Aspekt stärker berücksichtigen, da uns die Tour so eine Unsumme kostet. Es wird die Zeit kommen, wenn wir uns das alles nicht mehr leisten können, dann müssen wir gezwungenermaßen eine Akustikband werden.

Euer erstes Album „To Lose My Life“ war ein Riesenerfolg. Es erreichte Platz 1 in den UK Charts und wurde weltweit von Kritikern in den höchsten Tönen gelobt. Als Newcomer habt ihr alles erreicht, was man sich nur wünschen kann. Welche Ziele habt ihr euch nun für „Ritual“ gesetzt?

Wir sind ambitionierter an das neue Album herangegangen. Wir haben uns aber auch nicht zu viele Ziele gesetzt, weil es unmöglich ist zu wissen, was man möchte, bevor man überhaupt mit der Arbeit begonnen hat. Fakt ist, dass wir alle sehr viel dazu gelernt haben.

Damals waren wir erst 18 Jahre alt, hatten nur eine kleine CD-Sammlung und ein sehr eingeschränktes Wissen über die Musikwelt. In den letzten Jahren haben wir uns Unmengen an Musik gekauft, haben uns mit den unterschiedlichsten Musikstilen und Genres auseinandergesetzt, das uns beim Schreiben der neuen Platte geholfen hat. Unser vorrangiges Ziel war es ein ambitioniertes Album zu schreiben.

Für mich ist „Ritual“ viel besser als das erste Album. Zum einen haben wir uns technisch enorm weiterentwickelt – wobei das nicht wirklich das Wichtigste einer Platte ist, vielmehr soll ein Album ein Gefühl vermitteln –; zum anderen sind die Texte ausdrucksstärker und die Melodien abwechslungsreicher. So gibt es auf „Ritual“ Songs mit kleinen Industrialparts, aber genauso findet man klassische Popsongs. Ich denke, dass Variation ein gutes Album ausmacht. Beim ersten Album waren die Songs repetitiver, der Sound und Style der einzelnen Lieder waren sehr ähnlich.

Rückblickend auf das erste Album, gab es etwas, das ihr komplett anders machen wolltet? Gab es vielleicht etwas, das ihr sogar bewusst vermeiden wolltet?

Überhaupt nicht. Wir alle sind noch immer sehr stolz auf unser erstes Album, anders wäre es gar nicht möglich, da es uns so viel ermöglicht hat, womit wir nicht gerechnet hätten. Und dann gibt es noch die tausenden von Menschen, die augenscheinlich das Album lieben. Somit steht es mir nicht zu darüber zu urteilen, ob es ein gutes oder ein schlechtes Album ist. Die Menschen, die hinausgehen und die Platte kaufen, treffen diese Entscheidung. Ihre Meinung zählt viel mehr als die der Band. Wenn sie das Album haben wollen, dann können sie es genießen, wenn sie nicht wollen, dann eben nicht.

Für mich ist „To Lose My Life“ noch immer ein hervorragendes Album und ich glaube, dass wir kein besseres Album hätten machen können, nicht in diesem Alter und nicht zu diesem Zeitpunkt unseres Lebens. Als wir anfingen an „Ritual“ zu arbeiten, beschlossen wir nicht mehr an das alte Album zu denken, wir hatten schon seit zwei Jahren keine Songs mehr geschrieben. Wir wollten einfach sehen, was passiert.

Es heißt immer, dass man erst durch Fehler lernt. Gab es einen Fehler, eine Fehlentscheidung – oder etwas, das ihr prinzipiell anders machen würdet, aber von dem ihr der Meinung seid, dass diese Erfahrung wesentlich für die Entwicklung eurer Band war?

Etwas, das ich dieses Mal definitiv nicht machen würde, wäre mich von Anfang an in schwarz zu kleiden. Zwar bin ich gerade schwarz angezogen (lacht), aber ich glaube, dass wir damit einen richtigen Fehler gemacht haben. Eigentlich war es kein Fehler. Der einzige Grund warum wir es getan haben, war – und das war zugegebenermaßen sehr naiv von uns – dass wir nicht wussten, was wir bei unserer allerersten Show tragen sollten. Zu diesem Zeitpunkt haben wir unsere Songs noch nie zuvor live auf der Bühne gespielt und wir fragten uns wie wir dabei aussehen sollten. Wir dachten uns einfach ‚Scheiß drauf, lass uns nicht mehr darüber nachdenken‘ und so haben wir einfach beschlossen nur schwarz zu tragen. Wir wollten auf der Bühne wie Silhouetten wirken, damit die Zuhörer nur auf die Musik achten, weil es eben nur schlichte, schwarze Kleidung war – eben langweilig. Natürlich hat das nicht funktioniert. Die Leute haben sich darauf gestürzt und dachten es wäre unser Markenzeichen. Ich wünschte, wir hätten das nicht gemacht.

Ich denke auch, dass wir in Interviews ein wenig offener hätten sein sollen. Beim ersten Album waren wir noch ziemlich verschlossen und fanden es befremdlich darüber zu reden wer wir sind. Vielleicht ist diese anfängliche Nervosität normal, doch ich denke, dass wir einigen Leuten ein falsches Bild von uns vermittelt haben – wir haben sehr ernst und abweisend gewirkt. Wir nehmen unsere Musiker sehr ernst, doch uns selbst nehmen wir überhaupt nicht ernst. Wir haben das Gefühl, dass einige Menschen nie richtig verstanden haben wer wir wirklich sind. Ich denke aber, dass das sehr wichtig ist, dass die Leute mehr über uns wissen. Zu Beginn hatte ich nicht diese Einstellung, aber nun glaube ich, dass die Leute es mögen etwas Persönliches von dir zu wissen, wenn sie deine Musik hören. Wenn ich an die Bands denke, die ich liebe, habe ich in meinem Kopf ein bestimmtes Bild von der Person, die dieses Lied singt, und das hilft mir auf gewisse Weise die Musik besser zu verstehen.

White Lies entstand als eure erste Band Fear of Flying sich auflöste. Bald wurde die Presse auf eure neue Band aufmerksam und deklarierte kurzerhand White Lies als „the next big thing“. Wie hat es sich für euch angefühlt als „Newcomer“ bezeichnet zu werden, obwohl ihr als Musiker schon seit vielen Jahren gearbeitet habt? Im Grunde genommen, ward ihr keine Anfänger mehr.

Es war ziemlich lustig. Die Musikindustrie ist einfach sehr dumm. Wir sind immer noch dieselben drei Personen, wir haben nur unseren Namen geändert. Der einzige Grund, warum es zur Namensänderung kam und White Lies gegründet wurde, war, dass uns die Lieder, die wir mit 15/16 Jahren geschrieben hatten, absolut nichts mehr bedeuteten. Wir wollten diese Lieder hinter uns lassen, da wir das Gefühl hatten, dass die neuen Songs einfach viel besser waren. Wir wollten eine Änderung, einen Neuanfang. Wir dachten, dass ein neuer Name uns dabei helfen würde.

Tatsächlich, hat die Musikpresse für eine lange Zeit nicht realisiert, dass wir bereits schon einmal eine Band waren. Lustig ist auch, dass nun viele Journalisten über Fear of Flying sprechen, aber als wir noch in der Band spielten, brachten wir keinen einzigen Menschen dazu über unsere Musik zu schreiben. Erst als wir zu White Lies wurden, begannen sie sich für Fear of Flying zu interessieren. Und doch könnten wir nicht das tun, was wir jetzt gerade machen, wenn wir nicht durch all diese Erfahrungen gegangen wären. Es ist keine schlimme Sache. Es ist vielleicht der Preis, den man zahlen muss.

Und Jack sollte Recht behalten. Als White Lies ihr Live-Set im Wiener Gasometer mit den Zeilen: „I don’t need your tears/ I don’t want your love/ I’ve just got to get home/ and I feel like I’m breaking up“ beendet hatten, hinterließen sie das Publikum gleichzeitig melancholisch und in überschwänglicher Euphorie.

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