Die Video-App Tiktok gibt ein schwindelerregendes Tempo vor. Wer sich als Musiker*in darauf einlässt, muss mit geänderten Rahmenbedingungen zurechtkommen.
Es ist ein heißer Augustabend in Wien, 2019. Im Flex steht Mitski auf der Bühne und im Publikum stehen Menschen in ihren 20ern und 30ern, die dem Indie-Darling huldigen. Nichts deutet darauf hin, dass ein halbes Jahr später die Welt Kopf steht. Oder dass das Publikum beim nächsten Wien-Besuch der Musikerin keine Tickets mehr bekommen wird, weil das Konzert im Nu ausverkauft ist. Was ist da passiert?
Die Erklärung für den Hype um Mitski steht 2022 schon mittags im WUK Schlange. Es sind Jugendliche, die in Gruppen oder in Begleitung ihrer Eltern angereist sind, mit viel Eyeliner und in 90er-Revival-Mode gekleidet. Sie haben Blumen für die Künstlerin mitgebracht und eine Playlist für die Wartezeit, die unbeeindruckt von traditionellen Genrezuschreibungen alles abdeckt, was zwischen Lana del Rey und Harry Styles Stimmung macht. Für viele von ihnen ist es ihr allererstes Konzert. Sie haben Mitski während der Pandemie nicht im Radio, auf Youtube oder Spotify entdeckt, sondern auf Tiktok. Die App des chinesischen Konzerns Bytedance ist mit über einer Milliarde aktiven User*innen aktuell die tonangebende Plattform.
Stefanie Hübel ist ehemalige Tiktok-Mitarbeiterin. Sie hat in Berlin Unternehmen zum Start ihrer Tiktok-Channels beraten und mittlerweile in Wien die Agentur Viral Social Club gegründet. Und sie findet, dass man den Einfluss der Plattform auf die Gesellschaft derzeit gar nicht überschätzen kann: »Wenn du die Jugendlichen auf der Straße anschaust – jeder Modetrend, jeder Musiktrend – alles kommt von Tiktok. Das ist eine Jugendkultur, die ich so noch nicht gesehen habe.«
Was unterscheidet das neue Leitmedium von den vorangegangenen Social Media des Web 2.0? Zum einen, dass die Eigenwahrnehmung gar nicht die eines Sozialen Mediums ist. »Tiktok ist eine Entertainment-Plattform. Da finden Dinge statt, die nicht auf Instagram passieren. Tiktok ist eine Riesencommunity«, meint Hübel und streicht damit hervor, dass nicht Updates der eigenen Freund*innen im Vordergrund stehen, sondern das, was global angesagt ist und der Algorithmus auf Basis der individuellen Interessen der User*innen in den Start-Screen, die sogenannte For-You-Page, spült.
Wer in der App erfolgreich sein will, muss kurze, knackige Videos posten, die ab der ersten Sekunde fesseln, denn die nächste »Creation«, der nächste »Tok« sind nur einen Swipe entfernt. Wer witzig ist, ist klar im Vorteil. Das können User*innen wie Toxische Pommes, Wurstaufschnitt, Bruman Rockner und Satans Bratan bestätigen, die mit ihrem satirischen Blick auf Österreich und seine diversen Communitys regelmäßig viral gehen. Aber auch für Musiker*innen gibt es Möglichkeiten aufzufallen: »Jedes Video hat einen Sound hinterlegt. Die App ist einfach soundlastig. Man kann sagen, dass Sounds die neuen Hashtags sind«, so Hübel. Vor dem Rebranding hieß die Plattform gar Musical.ly und war vor allem für Lip-Sync- und Choreografie-Videos bekannt.
How to viral?
Diesen Umstand machen sich etablierte Acts wie Lizzo zunutze, die ihre Neuveröffentlichungen neuerdings mit eigens für die Community maßgeschneiderten Choreos zu passend ausgewählten Song-Snippets promoten. Richtig spannend wird der Algorithmus aber erst, wenn die viralen Momente nicht von den eh schon Berühmten kommen, sondern von unbeteiligten Dritten wie dem User Nathan Apodaca, der im Alleingang den Fleetwood-Mac-Song »Dreams« 43 Jahre nach seiner Veröffentlichung zurück in die Charts katapultierte. Er hatte damit ein Video untermalt, in dem er im Morgengrauen Skateboard fährt und Cranberrysaft trinkt, und so wohl einen Nerv getroffen. Stefanie Hübel meint dazu: »Dieses Video war zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Du musst gar keine Absicht haben und plötzlich ist der Song wieder in den Charts und das Getränk in allen Supermärkten ausverkauft.«
Aber was tun, wenn man noch nicht berühmt ist und auch nicht auf den zufällig durch die Decke gehenden User Generated Content warten möchte? »Das ist die Lieblingsfrage meiner Kund*innen«, erzählt die Tiktok-Beraterin Hübel. »Wie gehe ich denn jetzt viral und wie werden meine Videos gesehen? Natürlich kann man das fördern, indem man sehr viel und regelmäßig Content postet und auf Trends achtet. Aber so ein richtiges Erfolgsrezept gibt es nicht. Es ist ein Glücksmoment.«
Dieser Meinung ist auch Petra Albrecht, die beim weltweit zweitgrößten Major-Label Sony Music für die Vermarktung der lokalen Signings Granada, W1ze und Freude zuständig ist und internationale Acts von Arcade Fire bis Robbie Williams betreut: »Ich kann einen viralen Moment oder ein Momentum nicht erzwingen. Was ja auch gut ist, weil eine gewisse Chancengleichheit herrscht, wenn du ein kreativer Kopf bist.« Das hindert freilich Künstler*innen und ihre Labels nicht daran, es trotzdem zu versuchen.
Content-Maschinerie
Manchen Musiker*innen geht genau das gehörig gegen den Strich. Es sind nämlich nicht die Datenschutzverstöße, Spionagevorwürfe und Zensur auf der chinesischen Plattform, an denen sie sich stoßen. Acts wie Halsey und FKA Twigs beschweren sich darüber, dass ihre Labels ständig viralen Tiktok-Content verlangen. Derlei Vorwürfe würde die Sony-Produktmanagerin Albrecht nicht gelten lassen. Zur Zusammenarbeit mit Artists sagt sie: »Wir sprechen Empfehlungen aus und entwickeln dann gemeinsam Content und Formate. Hier ist es wichtig, dass sich die Artists mit den Inhalten wohlfühlen und wir Hand in Hand und auf Augenhöhe zusammenarbeiten.«
Wenn ein Act dem Tiktok-Marketing zustimmt, kann dabei so eine Erfolgsgeschichte wie die von Gayle rausschauen. Mit der Nummer »ABCDEFU« schaffte die Newcomerin es an die Spitze der weltweiten Singlecharts. Begonnen hat ihr Siegeszug mit der scheinbar spontanen Frage einer Userin, ob sie einen Trennungssong schreiben könne, in dem das Alphabet vorkommt. Die oddly specific Vorgabe beantwortet die Sängerin mit einem »I got you« und stimmt den bereits perfekt auskomponierten Hitsong an. Später stellte sich freilich heraus, dass die Userin mit der witzigen Idee nicht irgendeine Followerin, sondern Mitarbeiterin ihrer Plattenfirma war. Und dass der Zauber eines authentisch wirkenden Geistesblitzes durchaus geplant werden kann.
Fehlende Ehrlichkeit
Auch im deutschsprachigen Raum gibt es mittlerweile Labels, die virale Tiktok-Strategien entwickeln, um ihren noch unbekannten Artists zum Durchbruch zu verhelfen. Sie halten sich dabei schön im Hintergrund, damit alles ganz organisch wirkt. On the record sprechen möchte man darüber aber nicht. Das würde wohl den Zauber entlarven.
Was für Lizzo funktioniert hat, hat auch die Berliner Künstlerin Domiziana zuerst an die Spitze der Tiktok-Trends und von da in die höchsten Ränge der Singlecharts gebracht. Ihre Debütsingle »Ohne Benzin« wird von ihrem Label als von Hyperpop beeinflusster Clubkid-Sound vermarktet. Für Tiktok hat man eine »1,1x Speed Version« produziert und einen mit Bedacht gewählten Songausschnitt zur Nutzung auf der Plattform freigegeben. Die offizielle Version der Geschichte geht so: Nicht näher genannte User*innen verbreiten eine Choreo dazu und über Nacht wird die Nummer zum viralen Hit, der den Soundtrack für mehr als 100.000 Kurzvideos liefert. Wie zum Beweis, dass das alles gar nicht geplant war, macht schließlich auch Domiziana selbst den Tanz nach. Untertitel: »Du hast den Song rausgebracht aber kannst nicht dazu tanzen.« (sic!)
Nur wird in dem Narrativ ein Detail weggelassen, nämlich dass die virale Choreo nicht von irgendwem, sondern von Marek Fritz gepostet wurde, seines Zeichens Influencer für Comedy-, Tanz- und Gen-Z-Content. Er wird von der Berliner Agentur Labs Management vertreten und hat 1,4 Millionen Tiktok-Follower*innen. Und wo Influencer*innen mit Managementverträgen sind, ist Influencer-Marketing nicht weit. Für eine derartige Reichweite fließt üblicherweise eine großzügige Summe Geld.
Lizzo, Gayle und Domiziana sind Erfolgsbeispiele, deren Vermarktung auf Tiktok besonders gut funktioniert hat. Die Videoplattform verändert aber längst nicht mehr nur in Einzelfällen die Arbeit von Labels und Musiker*innen. Ihr immenser Einfluss auf die Jugendkultur macht die App zum idealen Werbeumfeld. Für Petra Albrecht ist es daher ein weiterer Kanal, um ihre Sony-Acts zu platzieren: »Genauso wie bei anderen Plattformen kannst du Werbeeinschaltungen machen und Posts boosten. Ich habe auf Tiktok aber auch neue Möglichkeiten der Promotion, man kann zum Beispiel die Duettfunktion nutzen, um mit anderen Leuten zu kollaborieren. Es ist eine sehr schnelllebige Plattform, die nach ständigem Monitoring verlangt. Das hat sich stark verändert.«
Die Schnelllebigkeit des unersättlichen Algorithmus stellt nicht nur Halsey und FKA Twigs vor die Frage: Was hat die Fähigkeit, engaging Videocontent am Fließband zu produzieren, überhaupt noch mit dem Musikmachen zu tun? Den Fokus weg vom Talent hin zur Selbstvermarktung, das Credo der Authentizität, die kurze Aufmerksamkeitsspanne – all das hat Tiktok nicht erfunden, aber brutal weitergesponnen. Das ist zumindest eine Sichtweise. Als jemand, deren Job Musikpromotion ist, hat Albrecht naturgemäß einen anderen Blick auf die Entwicklung: »Content zu erstellen war früher viel komplizierter. Ein Artist kann heute dank solcher Plattformen Inhalte zunächst selbst erstellen und sich so gut eine Community aufbauen.« Freilich: »Es gibt auch Artists, die ohne Social Media durch die Decke gehen. Aber Tiktok ist einfach ein Ding mehr, das man nutzen kann.«
Stefanie Hübels Agentur ist unter www.viralsocial.club zu finden. Petra Albrechts Arbeitgeber Sony Music Entertainment Austria ist auf Tiktok unter @sonymusic_at aktiv.