Plötzlich sterben Leute und die Meinungsfreiheit wird angezweifelt. Oft braucht es aber viel weniger, als das unfassbar dumme Video „The Innocence Of Muslims“ um Empörung auszulösen. Klar, Vereinfachung ist unvermeidbar, aber wie viel davon ist gut?
Hosea Ratschiller, Satiriker Foto: Christian Pitschl
"Gemma, Oida!" So wie bisher können wir unmöglich weiter machen. Einer steht auf einem erhellten Podest und doziert, der Rest sitzt im Dunkeln und schweigt. Dieses Format hat sich tot gelaufen. Unsere Möbel sollen wir selber zusammen bauen, aber in der heiligen Messe dürfen wir nur die Fürbitten mitgestalten?! Das versteht kein Mensch. Was soll das heißen, das Internet ist ein Adventkalender mit viel zu vielen Fenstern und ohne Erlösung? Web 2.0 ist mein Hobbyraum und ich bin der Heimwerkerking! Bam, Oida! Wir ersetzen die hierarchische, autoritäre Vermittlung von Wissen und Aufmerksamkeit durch eine demokratische. Fix, Oida! Wissenschaftliche oder politische Auseinandersetzungen entscheidet nicht mehr das vernünftige Argument sondern das Ergebnis einer Abstimmung. So ähnlich wie im Kolosseum im alten Rom, wo die Demokratie schließlich erfunden wurde. Das wird man ja wohl noch sagen dürfen! Daumen rauf, Daumen runter bzw. Daumen rauf, Daumen weg. Daumen runter geht ja oft gar nicht. Wurscht. Die Devise lautet: Unlock human potential! Gemma Vollgas! Versetzen wir die Profiteure der vordigitalen Machtstrukturen in Angst und Schrecken. So kommt endlich Leben in die Bude, die unzähligen Facebook-Stunden erstrahlen im Anschein eines Sinns und wenige Frauen gibt es nicht nur bei der Piratenpartei. Schau mal ins Priesterseminar, auf eine Bude oder zum Amadeus Award. Der Steuerzahler soll Forschung und Kultur finanzieren, die er sich mehrheitlich gar nicht anschauen will? Diese Zeiten sind vorbei. Wir erleben gerade den Zusammenbruch eines Systems. Und vom Krochn kann man nicht leben. Vernunft und Schönheit werden mit Drittmitteln aus dem Callcenter finanziert. Die Thesen zur kulturwissenschaftliche Dissertation über Postdemokratie entstehen an der Teigmaschine. Und der Rest der Systemerneuerer hackelt als Christbaumverkäufer. Bam, Oida! Hosea Ratschiller hat für FM4 und Ö1 Radioprogramme gestaltet, war mit Soloprogrammen wie „Liebe Krise“ und „Die FM4 Ombudsmann Dienstreise“ unterwegs und hat 2012 den österreichischen Kabarett-Förderpreis bekommen.
Corinna Milborn, Journalistin Foto: Puls4, Gerry Frank
"Zum Beispiel verpackte Bananen" Was haben wir uns nicht gefreut über die Crowd Intelligence, die uns Wunder wie die Wikipedia beschert hat. Doch leider ist die Crowd auch dumm – und wenn sie mal tobt, sind Argumente sinnlos. Nehmen wir den jüngsten Shitstorm: verpackte Bananen. Solche wurden – geschält und unter Folie verpackt – Mitte September in einer Billa-Filiale fotografiert und auf die Billa-Facebook-Page gestellt. Der Konzern reagierte schnell: Es sei nicht üblich, Bananen ihrer Schale zu berauben und in Plastik zu hüllen. Man wisse nicht, in welcher Filiale das Bild entstanden war, und habe angewiesen, das Verpacken von Bananen einzustellen. Doch Stellungnahmen nützen nichts, wenn der Shitstorm erstmal tobt. Die Facebook-Page von Billa quoll vor Empörung über. Auf Twitter wurden unter dem Schlagwort #nakedbananas sehr, sehr viele Rufezeichen verbraucht. Von Gizmodo über das Time Magazine, von der Huffington Post bis zur Süddeutschen berichtete die globale Medienwelt über drei Packungen Bananen in einem österreichischen Supermarkt. Dabei wusste niemand, ob es sich nicht um einen Fake handelte, oder vielleicht ein besonders umweltbewusster Angestellter braune Bananen vor dem Mistkübel retten wollte. Es kümmerte auch niemanden, dass verpackte, gekochte, geschälte Kartoffel und kleingeschnittene geschälte Ananas in Plastikdöschen Supermarkt-Alltag sind, ohne dass jemand deswegen die Billa-Facebook-Page bemühen würde. Und schon gar nicht, dass verpackte Bananen das geringste Problem in einem Supermarkt voller Flugmangos, Plastikschrott, Erbsen aus Kenia, Blumen aus Äthiopien sind. Denn darum geht es nicht. Die billige Empörung dient nur dazu, sich sichtbar auf die Seite der Guten zu stellen – und das ohne jeglichen Denkaufwand: Blick, Klick, geteilt. Nun könnte man sagen: Egal – die Menschen sind eben online nicht gescheiter als offline, und Billa hält das aus. Doch die Crowd-Dummheit hat einen Haken: Es gibt nur ein gewisses Maß an Empörung, das Durchschnittsmenschen gegen Missstände aufbringen können. Wenn das mit dem Protest gegen verpackte Bananen schon aufgebraucht wird, dann bleibt nichts für die wirklich wichtigen Dinge. Und die kann man meist nicht mit einem simplen Foto erklären. Corinna Milborn, 39, ist Journalistin, Buchautorin und TV-Moderatorin (seit kurzem bei Puls4).
Michael Schmidt-Salomon, Philosoph
"Wider die Schwarmdummheit" Es ist eine Binsenweisheit, dass größere Menschenmassen größere Probleme erzeugen. Dennoch: Der eigentliche Grund für die globale Misere liegt nicht in der gestiegenen Biomasse des Menschen, sondern in der zu wenig genutzten Hirnmasse: Wir sind schlichtweg zu doof, um so viele zu sein! Jede ökologische Nische verträgt nur ein gewisses Maß an Blödheit – und der Mensch überspannt den Bogen in dieser Hinsicht gewaltig. Angesichts der Katastrophen, die wir bereits ausgelöst haben, muss man sich wirklich fragen, was die intelligentere Lebensform ist: Mensch oder Ameise? Immerhin übersteigt die Biomasse der Ameisen die des Menschen um ein Vielfaches. Doch bei ihnen gibt es weder Überbevölkerungs- noch Müllprobleme. Allem Anschein nach verstehen sie es, intelligenter zu wirtschaften als wir. Aber warum ist das so? Sind wir als Einzelwesen nicht unendlich viel klüger? Natürlich sind wir das! Als Individuen sind wir den Ameisen kolossal überlegen, auf der Ebene des Kollektivs haben wir trotzdem das Nachsehen: Denn Ameisen zeichnen sich durch Schwarmintelligenz aus, Menschen durch Schwarmdummheit. Es ist exakt das umgekehrte Phänomen: Während sich aus der individuellen Beschränktheit der Ameisen eine kollektive Intelligenz ergibt, resultiert aus der individuellen Intelligenz der Menschen eine kollektive Beschränktheit. Wir haben ein System geschaffen, das die Rationalität des Einzelnen mit tödlicher Präzision zur Grundlage eines kollektiven Irrsinns macht, das uns Entscheidungen treffen lässt, die innerhalb des Systems als „klug“, ja sogar „vernünftig“ erscheinen, obwohl sie in Wahrheit von atemberaubender Dummheit sind. In „Keine Macht den Doofen!“ habe ich dies u.a. am Beispiel von Politik und Wirtschaft demonstriert. Solange wir nicht den Mut aufbringen, die systemischen Ursachen unseres Irrsinns zu hinterfragen, werden wir keinen Ausweg aus der Misere finden. Statt „Empört euch!“ sollte es daher heißen: „Entblödet euch!“. Immerhin hat uns die Evolution mit einem erstaunlich komplexen Denkapparat ausgestattet. Wir sollten beginnen, ihn auf intelligentere Weise zu nutzen… Michael Schmidt-Salomon ist Philosoph und Vorstandssprecher der Giordano-Bruno-Stiftung. Zuletzt erschienen: „Keine Macht den Doofen!“ (Piper 2012). Infos unter: www.schmidt-salomon.de
Peter Dietrich, Kommunikationsmanager
"Gesellschaft auf Autopilot" Wie hoch ist eigentlich die aktuelle Informationsüberlastung? Verschiedene Studien kommen auf unterschiedlichste Werte, die meisten davon liegen dabei weit jenseits der 90%! Wir steuern im „Autopilot“ durch das Leben und picken uns hochselektiv lediglich die reizvollsten Rosinen aus dem Reizkuchen. Unser Alltag ist ein einziges „Rauschen“ – geprägt und strukturiert durch Gewohnheiten, Routinen und Wiederholungen – das lediglich durch ein paar wenige proaktive und bewusste Handlungen unterbrochen wird. Konrad Paul Liessmann bringt es auf den Punkt, wenn er den Alltag als einen Ort beschreibt, „in dem es in einem nahezu existenziellen Sinn um Wahrnehmungsreduktion, nicht um Wahrnehmungsschärfung geht.“ In dieser Reduktion nehmen wir lediglich Atmosphären wahr, die wiederum diffuse Stimmungen in uns auslösen, die uns zu beiläufig wirkenden Urteilen wie „irgendwie gut…“ oder „eh ok…“ veranlassen und sich in ihrer reduziertesten Form gerade einmal als „like“ manifestieren. Das bedeutet aber wiederum, dass die Wahrnehmung von ausdifferenzierten Informationen, deren elaborierten Verarbeitung und daraus resultierenden Meinungen und Handlungsweisen (jenseits von Schwarz-und-Weiß), nur in Situationen möglich ist, in denen wir eine gewisse Involvierungsschwelle übersteigen oder bei einigen wenigen Themen, bei denen wir uns selbst einen Expertenstatus zuschreiben. Es scheint klar, dass diese „Autopilotisierung“ unserer Gesellschaft dem Populismus, der Werbung und überhaupt der Manipulation der Massen Türen und Tore öffnet. Es kommt das Einfache vor dem Komplexen, das Konkrete vor dem Abstrakten, die Bewertung vor der Auseinandersetzung und überhaupt die Lösung vor dem Problem. Dass diese Strategie durchgeht, kann bei oberflächlicher Betrachtung den Eindruck einer dumpfen Gesellschaft erwecken. Wo die Grenze zu ziehen ist, ab der die Dumpfheit in selbstzerstörerischem Maße gefährlich wird, ist wahrscheinlich die falsche Frage, schon deshalb, weil ich darauf keine Antwort hätte. Peter Dietrich ist Bereichsleiter für Strategisches Kommunikationsmanagement am Institut für Kommunikation, Marketing und Sales der FH Wien.
Fresst die Reichen. Muslim Rage. Neiddebatten. Heuschreckenkapitalismus. Esogate. Hipster Metal. – Fast alles lässt sich so vereinfachen, dass sich der Schwarm auf das Thema wie die Meute auf den Knochen stürzt. Menschenmassen handeln immerhin irrational, sie sind nicht Herr im eigenen Haus, und sie mit einem Tier zu vergleichen, ist zwar erst wieder eine grobe Vereinfachung, liegt aber nahe und könnte helfen das Verhalten zu verstehen. Man müsste nur noch wissen, ob sich Massen nun doch eher wie Stacheltiere, Lemminge, Schafe oder Wölfe benehmen, wenn sie sich um ein Thema scharen.
Dabei hat jeder sein berechtigtes Anliegen und sucht eine Bühne dafür. Heute sind die Schranken niedriger, dahin zu kommen. In Diskussionen einzusteigen ist leichter geworden, sei es über Twitterwalls, Flashmob-Aktionismus oder Facebook-Pages mit lustigen Namen. Jeder kann sein eigenes Sprachrohr spitzen und einfach mal abfeuern. Aufmerksamkeit zu erregen war noch nie so einfach. Dafür bricht heute schon wegen kleiner Dinge ein Scheißeregen los. Shitstorm ist das Wort des Jahres, jetzt schon. Und täglich wird der Klimawandel der Worte schlimmer. Die Wut kocht, und man muss schreien: Ich lass mir das nicht mehr gefallen! Oder: Empört euch! Oder: Wir Systemtrotteln haben es satt im Hamsterrad zu laufen! Vielleicht merkt man es sogar an sich selbst. Der Ton ist rauer geworden, weil auch die Verteilungskämpfe schärfer werden. Ein Facebook-Bürger hat unlängst die US-Sängerin Nicki Minaj in einem Posting mit Krebs verglichen, will beim Hören ihrer Musik seiner Katze ins Gesicht schlagen und vermutet man kann AIDS vom Ansehen ihrer Videos bekommen. 900.000 Likes. Disclaimer: Er möchte niemand beleidigen.
Social Media übernimmt aber auch wichtige Kontrollfunktionen, Walter Gröbchen hat für seine Blogbeiträge und Postings letztes Jahr zu recht den Karl Renner Publizistikpreis gewonnen.
Dennoch, ohne Vereinfachung geht es nicht mehr. Und seien wir uns ehrlich: ging es auch früher nicht. Wenn aber auch die Herrschenden von diesem Fieber gepackt werden, hört sich der Spaß auf. Wenn die Doofen und ihre einfachen Lösungen regieren. Wie viel Vereinfachung verträgt und braucht also Diskurs?