Ich will sehen, was da unten ist – Wie man die Psychoanalyse auch in Wien wiederentdecken kann.
Wien hat sich immer mit einigem Stolz als Geburtsort der Psychoanalyse wahrgenommen. Bei Freud schwingt das ruhmreiche Fin de Siecle ebenso mit wie die österreichischen Experimente der Zwischenkriegszeit in Kunst and Politik. Und dennoch weiß man, wie umfassend die Kultur dieser Zeit in Österreich zerstört wurde. Die jüdische Kultur, die so eng mit allem verbunden war, was das Fin de Siecle und die Zwischenkriegszeit prägte, verschwand beinahe vollkommen aus Wien. Was wurde danach aus der Psychoanalyse? Die akademische Wiener Psychologie beschäftigt sich studentischen Auskünften zufolge momentan vorwiegend mit Statistik, in dem Bemühen den Naturwissenschaften möglichst nahe zu kommen. Die grundsätzliche Idee, dass Zahlen keinesfalls psychische Erscheinungen ersetzen können, scheint mehr oder weniger abhanden gekommen zu sein. Und wie steht es mit der Psychoanalyse als Teil des Wiener Alltags, der "Wiener Selbstwahrnehmung", falls es so etwas gibt? Das Antlitz von Sigmund Freud zierte die 50-Schilling Note in den 80er Jahren. Vermutlich einer der meistgebrauchten Scheine. "Unbewusst" brachte man die Psychoanalyse noch einmal unters Volk. Dadurch konnte man der Verdrängung aber nicht entgegenwirken – Wien ist noch immer die Stadt, die sich selbst spielt, als hätte es keinen Bruch, keine Auslöschung gegeben, als könnte man die erloschene Kultur noch immer für sich in Anspruch nehmen. Wie es auf individueller Ebene aussieht, ist wohl milieuspezifisch zu sehen. In manchen Milieus ist die "Psychotherapie" in allen ihren Formen selbstverständlich als fast schon obligatorische Lebenslaufbegleiterin angekommen. Man nimmt sie gleich in mehreren Lebensabschnitten in Anspruch um mit den gehobenen Anforderungen eines individualisierten, reflexiven Lebensstils klar zu kommen. Gesprochen wird darüber außer im engeren Freundeskreis aber kaum – vor allem gemessen an der wohl recht weiten Verbreitung. In anderen Milieus gilt der Besuch einer Psychotherapie immer noch als sozial komprommitierend. Mancherorts spricht man noch liebevoll vom "Irrenarzt".
Thematisierung des Unbewussten
Die eigentliche Frage ist aber: Empfinden wir Psychoanalyse? Ist da eine innere Resonanz, wenn wir uns das Es/Ich/Über-Ich Schema überstreifen, wenn wir traumatische Erfahrungen zu bewältigen haben, wenn wir uns an Bruchstücke unserer Träume erinnern, oder das Unbewusste bei der Arbeit wähnen?
Über Isopoda
Es scheint so, als versuche Franz Suess genau diese Fragen in seiner neuen Graphic Novel Iopoda für ein "modernes" Wien zu beantworten, ohne auch nur mit einem Wort Freud bemühen zu müssen. Es genügt ihm die Geschichte einer Trennung.
Tanja trennt sich von ihrem Freund. Sie zieht in eine neue Wohnung in einem schlechten Viertel, mitten in die Tristesse eines Wiener Altbaus. Sie sitzt zwischen den Umzugskartons, noch nicht wirklich angekommen. Die bestimmende Beziehung in ihrem Leben ist zerbrochen, mit ihr ein Teil ihres Selbstbildes. Die Welt wirkt feindlich und fremd. In den Umzugskartons schlummert die mitgeschleppte Vergangenheit. Tanja kramt die alten Puppen aus ihrer Kindheit wieder heraus. Im diffusen Zigarettenrauch klappt ein Porzellanauge zu. Die Vergangenheit erwacht.
Tanja wird von ihrer Großmutter besucht, einer alles einnehmenden, faltigen Eminenz, mit einem Gesicht wie eine Tapete, deren Anblick man in allen vier Blickrichtungen nicht entkommen kann. Sie setzt die Norm, kritisiert alles an Tanja und ihren Entscheidungen, das personifizierte Über-Ich. In Tanjas Träumen erwacht das "Es", eine dunkle Energie, die keine Sprache findet, aber auch nicht schweigen kann. Tanjas "Ich" arbeitet aber ebenfalls: Sie verbindet die dunkle Ahnung immer deutlicher mit fragmentiert erinnerten Eindrücken aus ihrer Vergangenheit. In einem Traum betritt Tanja schließlich die geheimnisvolle Wohnung auf der anderen Seite des Lichtschachts, von der aus sie sich beobachtet fühlt, und erkennt einen Ort aus ihrer Vergangenheit wieder, mit dem sie ein traumatisches Erlebnis verbindet. Tanja konfrontiert ihre Großmutter mit ihren Erinnerungen. Sie will die Tapete herunterreißen, eine erzwungene Psychotherapie für die ewig Verdrängenden. Doch wie es in Wiener Altbauten üblich ist, findet sie darunter nur weitere Schichten aus Papier und Kleister.
Isopoda von Franz Suess ist 2016 als Glaskrähe-Produktion in Wien erschienen. Nähere Infos: www.franzsuess.com