Für "Pulp Head", seine Geschichten über die amerikanische Alltagskultur, wird John Jeremiah Sullivan in seiner Heimat gefeiert. Zu Recht. Seine essayistischen Reportagen sind äußerst amüsant, klug und Pulp-/ Non-/ Fiction im besten Sinn.
Natürlich müsste man ein Buch wie "Pulp Head" eigentlich im Original lesen. Aber hey, wenn es schon in der deutschen Übersetzung vor einem liegt, dann ist das convenience. Hier geht es schließlich um Amerika. Wenn auch um das Ende Amerikas, wie der Untertitel verspricht. Wenn dessen Doppeldeutigkeit allerdings die melancholische Erwartung des Niedergangs einer Weltmacht vermuten lässt, provoziert diese bloß eine voreilige Interpretation und bedient den deutschsprachigen Buchmarkt mit vorgeblichem Antiamerikanismus. Tatsächlich ist John Jeremiah Sullivan wohl ein liberaler Patriot, der sein Land ebenso schätzt wie er seine Mitmenschen achtet. Und seine Texte künden auch nicht wirklich vom "Ende Amerikas".
Radikal subjektiv
Die einst selbstbewusst auf den Schwingen des American Dream getragenen White-Anglo-Saxon-Protestants allerdings, die als White Trash ins Bodenlose rutschen, und deren American Eagle hat er dennoch gnadenlos im Visier. Sullivans Waffe: eine Gabe, die richtigen Details ohne überhöhten Symbolismus fürs Ganze stehen zu lassen; ein wacher Verstand; fundierte Recherche; die für einen Journalisten eigentlich selbstverständliche Bereitschaft, die eigenen Vorurteile zumindest zu hinterfragen; und ein unverwechselbarer, radikal-subjektiver Stil. Dabei schont er sich auch selbst nicht (wenn er etwa aus dem Leben seiner Familie erzählt) und erkundet ein Amerika abseits der Metropolen, das weiße Hinterland, also gewissermaßen auch topografisch das Ende Amerikas. Die Seele Amerikas, wenn man so will.
Ein Gonzo-Blick aufs Ganze
All das könnte schnell gewöhnlich geraten. Was Sullivans literarische Reportagen allerdings so besonders macht, zeigt am klarsten »Auf diesen Rock will ich meine Kirche bauen« (ursprünglich unter dem Titel »Upon this rock« im Magazin GQ erschienen). Im ersten und stärksten der abgedruckten Texte (die für die Buchpublikation allesamt überarbeitet wurden) besucht der Autor ein christliches Rockfestival und mischt sich unter die Jesusjünger um herauszufinden, was diese Kids so treibt. Der Atheist Sullivan berichtet über seine eigene "Jesus-Phase", erklärt beiläufig doch schlüssig, warum Musik mit dem vordergründigen Anspruch, christliche Inhalte zu verbreiten, nie große Kunst sein kann und schafft es so, den Gottesanbetern unglaublich nahe zu kommen. Seine Schilderungen sind dabei nie profan. Vermutlich, weil hier Subjekt auf Subjekt trifft und diese Konstellation unglaubliche Nähe ermöglicht.
Beachtlich: Wenn Sullivan sich selbst und seine Vita einbringt, dann ist das mit keiner Silbe selbstverliebte Ego-Show, sondern stets sachdienlich. Dieser Autor lässt sich einfach mit Haut und Haaren auf seine Geschichten ein.
Bekifft in Disney World
Groß auch: Sullivan schildert wie er es mit seiner und einer befreundeten Familie drei Tage lang in Disney World aushält – dank eines Online-Forums, das Orte und Freiräume listet, an denen man in diesem rundum durchkontrollierten Ressort kiffen kann. Dass einem eine Reportage über den späten Axl Rose, die auf einer Spurensuche am Ort seiner Jugend, Angelesenem und ein paar Konzertbesuchen basiert, neue Sichtweisen dieser "letzten großen ironiefreien Rockband" liefert, hätte zumindest ich nie gedacht.
Nicht ein einziges Mal lässt sich Sullivan zum Zynismus hinreißen. Immer achtet er sein Gegenüber, meißelt aus dem vermeintlich Objektiven das einzigartige Subjekt. Nie ist er neutral teilnehmender Beobachter. Selbst wenn er die Fans eines Reality Show-Entertainers, den er auf Tour begleitet und zum Essen lädt, "Wichser" schimpft, dann bleibt das würdevoll.
Sullivan ist einer, der die Menschen liebt und achtet. Ein großer Autor.
John Jeremiah Sullivan "Pulp Head. Vom Ende Amerikas" ist im Suhrkamp Verlag erschienen.