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Schweizer Kunden forderten in einer Petition den Boykott israelischer Produkte. Nun sollen Waren aus dem Westjordanland gekenntzeichnet werden. Ist das gut, böse oder eine jenseitige Überforderung der Moral?

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Im Supermarkt ist alles leider geil, was man will und alles ungeil, was man soll. Das weiß heute jeder Fastfoodmulti, deswegen verkauft er seine Industrie-Hamburger auch mit dem Biobauerschmäh. Was darf man essen? Die Fastenvorschriften des islamischen Ramadan sind im Vergleich dazu ein Kinderspiel. Rindfleisch? No way, katastrophale Energiebilanz. Trägt außerdem zur Erhöhung der Methangasproduktion bei. Fisch? Geht nicht, das hält das überfischte Meer nicht mehr aus, und außerdem sind da sicher ein paar Atome Fukuyima drin. Der Fair Trade-Kaffee ist auch nicht wirklich fair, der Wein aus Australien geht wegen dem ökologischen Fussabdruck nicht, und der spanische Salat wird von modernen marokkanischen Sklaven geerntet. Ja, man kann die Motivation von Karen Duve in ihrem Bestseller „Anständig essen“ schon verstehen. „An dem Tag, als ich beschloss, ein besserer Mensch zu werden“, war sie im Supermarkt und kam über die Ansicht eines langjährigen, geliebten Lebensabschnittpartners namens Hähnchen-Grillpfanne ins Grübeln.

Fallobst aus den Siedlungen

Die Schweizer Supermarktkette Migros hat für 2013 eine Kennzeichnung für Orangen oder Oliven aus den jüdischen Siedlungen im Westjordanland angekündigt. Man könnte sagen: eine löbliche Geste politischer Bewusstsiensbildung eines Konzerns, der auch moralische Werte im Einkaufssackerl mitliefern will. Aber was heißt das jetzt für unsereins vor dem Regal? Soll ich jetzt die Orangen boykottieren und durch das Vorüberschreiten an der Kiste meine Ablehnung der israelischen Siedlungspolitik demonstrieren – und zwar wenn schon sonst keinem Publikum, dann wenigstens mir selbst?

Andererseits will der Konzern ja doch das Obst verkaufen. Warum sonst wird es denn sonst angeboten? Soll ich also die Orangen eben doch kaufen, damit ich vielleicht die in der Ernte eingesetzten palästinensischen Arbeiter unterstütze? Aber Moment, unterstütze ich damit nicht eher die Aubeutung der Arbeiter und den Status Quo der illegalen Siedlungen? Oder soll ich die Orangen (als Israelunterstützer) genau deshalb kaufen, weil ich damit eine zackige Solidariät mit Israel zeigen kann? Oder appelliert der Konzern einfach nur an eine imageträchtige Bewusstmachung mit der Hoffnung auf keine Konsequenzen, damit am Ende weiter die Kasse stimmt?

Der gute Kapitalismus der Schweizer Denkungsart

Wie man´s dreht und wendet: Der gute Kapitalismus der Schweizer Denkungsart stellt einen vor noch mehr Schwierigkeiten als ein moralisch blinder Kaufmannsgeist. Transparenz, sagt Migros-Chef Herbert Bollinger, sie das Gebot der Stunde. Was der Kunde dann mit den Etikett-Informationen „Westbank, israelisches Siedlungsgebiet“ bzw. „Ostjerusalem, israelisches Siedlungsgebiet“ macht, bleibe dem mündigen Bürger überlassen.

Die israelische Botschaft verurteilt die Schweizer Neutralität als Akt der Diskriminierung Israels, der verlässliche Feuilletonscharfschütze Henryk Broder vergleicht das Kenntzeichungsvorhaben mit dem sogenannten Judenstempel in deutschen Pässen während des Nationalsozialismus. „Folgt man aber der Logik von Herbert Bolliger, könnte man sagen, auch das große rote "J" war keine Stellungnahme im Konflikt zwischen dem Deutschen Reich und seinen Juden, es war nur eine Maßnahme zur Herstellung von Transparenz. Der mündige Grenzbeamte sollte in die Lage versetzt werden, eine Entscheidung zu treffen, wen er einreisen lässt und wen nicht.“

Homophobe Pistazien

Doch damit nicht genug. Wäre es nicht auch interessant, stichelt Broder weiter, zu wissen, woher die Pistazien im Supermarkt kommen? Vielleicht gar aus dem Iran, „wo Ehebrecherinnen gesteinigt und Homosexuelle an Baukränen aufgehängt werden?“


Das Supermarkt als Minenfeld des Gewissens: Das Beispiel zeigt, wie die Zuständigkeitsbereiche einer moralischen Sensibilität ganz ohne den vielbeschworenen Tugendterror von außen und die lästige Gouvernantenstaatsgängelung beständig erweitert werden. Die Luxusmoral der konsumierenden Stände wird zum Alltag. Gefragt ist eine Tugend ohne Gott, die dem angekränkelten Selbst den Bauch pinselt. Der New Yorker Musiker John Maus hat sein letztes Album passenderweise “We must become the pitiless censors of ourselves“ passenderweise genannt und dabei wohl nicht nur an die Tücken der Warenwelt im Supermarkt, sondern auch an das Balzgehabe in der Disco gedacht.

I Vs Us

Gleichwohl sind Worte wie „Wir" und „Uns“ im Popzusammenhang eher retro, wenn man einem deutschkanadischen Forscherteam glauben darf. Das hat unlängst festgestellt, dass die Popmusik in den letzten 40 Jahren immer trauriger und selbverliebter geworden ist. Früher hat man in Dur ein Wir eingeklatscht, heute jammert man in Moll über das arme, depressive Ich. Mal nachdenken, was war denn da: "We shall overcome", "we will rock you" von Queen, "we are the champions" von der Südkurve, "We love you" von den Stones, "We are family" von Sister Sledge oder "Wir sind die Roboter" von Kraftwerk. Ok ok, passt.

Und ab den späten 80-ern immer mehr Ichichich! "Me Myself and I" von De la Soul, "Ich-Maschine" von Blumfeld, "Fütter mein Ego" von den Einstürzenden Neubauten. Andererseits gibt es das Ich aber auch schon viel früher in depressiver, beschädigter Form: "I dont like Mondays" von den Boomtown Rats, "I am the walrus" von den Beatles, "I walk the line" von Johnny Cash oder "Zwickts mi" von Wolferl Ambros. Das händehaltende „We“ war umgekehrt aber auch nicht immer Friede, Freude Eierkuchen: "We hate you little girls", haben Throbbing Gristle mal gesungen, und das jetzt war echt war kein Liebebeslied, sondern schmuddelte hart an der Pädosexuellen-Grenze herum. Hilfe, Zensor in uns, bitte melden!

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