Können wir aktuelle Fragen der Menschheit noch beantworten? – 25 Fragen zur Gegenwart (1/25)

Die Welt, in der wir leben, wird immer komplexer und komplizierter – so eine häufige Argumentation. Gefolgt vom beliebten Stehsatz, dass früher alles besser gewesen sei. Warum Letzteres nicht stimmt und endgültige Antworten auf offene Fragen schwierig zu geben sind, erklärt Peter Klimek.

© Lukas Weidinger

Woran arbeiten Komplexitäts­forscher wie Sie, wenn nicht gerade eine Pandemie ins Haus steht?

Peter Klimek: Wir verstehen Komplexität als technischen Ausdruck, der nichts mit dem zu tun hat, was gemeinhin darunter verstanden und mit »kompliziert« synonym verwendet wird. Bei uns geht es darum, Systeme zu verstehen, die aus vielen Teilen bestehen, aber trotzdem mehr sind als die Summe dieser Teile. Da geht’s um Themen wie Emergenz und Synchronisation. Von der Methodik her arbeiten wir daten­basiert, quantitativ und formal­wissen­schaftlich. Das urtypische Anwendungs­beispiel ist eben die Infektions­ausbreitung, aber auch die System­stabilität an sich sowie Sicherheit in der Versorgung und Probleme in der Lieferung – wie es jetzt mit dem Krieg Russlands gegen die Ukraine wieder aktu­eller wird.

Lässt sich aus Ihrer Sicht sagen, dass unsere Welt eine immer komplexere wird?

In der Komplexitäts­forschung sagen wir: context matters. Bis in die 70er-, 80er-Jahre hat man sich entweder sehr kleine Systeme sehr genau angeschaut, weil man dann auch ohne Computer die Chance hatte, die einzelnen Gesetz­mäßig­keiten zu verstehen und einzuarbeiten. Anderer­seits wurden große Systeme so beschrieben, als wären alle Details gleich. Wie wenn ich beispielsweise in der Physik annehme, dass sich alle Wasser­moleküle gleich verhalten. Auch komplexe Systeme können sehr simple Eigen­schaften haben. Unsere Welt wird immer aus­differenzierter und spezialisierter. Insofern nimmt auch die Komplexität zu, weil die Kontexte immer unter­schied­licher werden.

Viele alltägliche Lebens­bereiche sind mittlerweile stark digitalisiert und globalisiert, die Folgen eigener Handlungen scheinen oft schwer abzuschätzen. Macht eine steigende Komplexität unser Leben auch komplizierter, gar schwieriger?

Ich bin mir nicht sicher, ob sich das qualitativ so stark verändert hat in den letzten Jahren. Gesellschaft funktioniert ja gerade durch diese Aufgaben­teilung und durch eine gewisse Spezialisierung. Dass jede und jeder von uns nicht alles kann und sich nur auf einen gewissen Teil konzentriert, das ist schon länger so. Was sich natürlich geändert hat, ist die Zeitskala dieser Entwicklungen. Man wird mehr und mehr zu einem kleinen Zahnrad und die Geschwin­digkeit der Entwick­lungen steigt rasant. Zu behaupten, dass früher alles besser war, halte ich für verklärend. Alle Indikatoren deuten darauf hin, dass unser Leben besser wird. Beispiel Lebens­erwartung. Die ist heute viel besser, als sie es vor ein paar Jahr­hunderten war. Perverser­weise findet heute eine Verklärung der traditionellen Medizin statt, die bis hinein in die Wissenschafts­skepsis geht. Auch qualitativ betrachtet war das Leben für durch­schnitt­liche Wiener*innen vor 500 Jahren sicher nicht besser als heute.

Warum suchen nach wie vor große Teile der Gesellschaft nach einfachen Antworten? Welche Kompetenzen empfehlen Sie sich anzueignen, um mit diesem Drang umzugehen?

Man kann auch einfache Antworten auf komplexe Frage­stellungen geben. Die sind dann halt meistens falsch, und dann muss man dazusagen, warum sie falsch sind. So kann man Sach­verhalte auf unter­schiedlichen Ebenen kommunizieren. Bestimmte Zusammen­hänge erklärt man dem Kleinkind anders als der Groß­mutter und dieser wiederum anders als einem Hochschul­professor. Es ist eine Stärke der Wissen­schaft, dass man vereinfachte Erklärungs­modelle angeben kann, bei denen man bestimmte Aspekte versteht, aber eben nicht alles. Und dann versucht man, immer zutreffendere Antworten zu finden.

Besonders für Forschungs­treibende ist die Herausforderung, mehr Transparenz zu schaffen und die Dritte Mission der Universitäten (ihre Erkenntnisse für den Umgang mit gesell­schaft­lichen Heraus­forderungen zu kommunizieren und nutzbar zu machen; Anm.) entsprechend ernst zu nehmen, die jetzt im Forschungs­alltag zu kurz kommt, weil es wenig Ansporn gibt, sich da einzubringen. Auf gesell­schaft­licher Ebene haben wir den Umgang mit der Digitali­sierung noch nicht richtig hinbekommen. Damit meine ich die Entstehung von Echo­kammern oder Filter­bubbles – ebenfalls ältere Phänomene, die sich gerade beschleunigen.

Abseits von der Aufrecht­erhaltung einer kritischen Geistes­haltung und dem Versuch, sich bei mehr als einem Medium zu informieren, hilft es, wenn man Menschen vertraut und sich an denen orientiert, die sich besser auskennen als man selbst. Außerdem hilft folgender Ansatz: Wenn jemand für ein komplexes Problem eine einfache Antwort anbietet, dann hätten wir vielleicht das Problem gar nicht, wenn die einfache Antwort stimmen würde.

Peter Klimek ist Physiker und Komplexitäts­forscher am Complexity Science Hub Vienna und an der Medizinischen Universität Wien. 2021 wurde er vom Klub der Bildungs- und Wissen­schafts­journa­list*innen als öster­reichischer Wissen­schafter des Jahres ausgezeichnet. Wegen der Corona­pandemie war er zuletzt mit seinen Modellen und Erklärungen häufig in öster­reichischen Medien zu Gast.

Anlässlich unseres 25-Jahr-Jubiläums haben wir uns in The Gap 192 »25 Fragen zur Gegenwart« gestellt. Dieser Beitrag beantwortet eine davon.

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