»Nie mehr wieder« ist ein Leitspruch, den sich Österreich auf die Fahnen geheftet hat. Und doch scheint der Antisemitismus hierzulande – wie auch in anderen Ländern – eher wieder auf dem Vormarsch zu sein. Holocaust-Forscherin Isolde Vogel über die Hintergründe.
Antisemitismus wird von manchen Menschen in Österreich bereits als ausgestorben oder aus dem arabischen Raum importiert bezeichnet. Doch die Statistik spricht eine andere Sprache. Die Meldestelle der Israelitischen Kultusgemeinde in Wien hielt in ihrem Antisemitismus-Halbjahresbericht 2021 fest, dass die jüdische Gemeinde seit Beginn der Aufzeichnungen vor 20 Jahren noch nie mit einer derart hohen Anzahl von gemeldeten Vorfällen konfrontiert gewesen ist. Mit 562 Angriffen war die Zahl doppelt so hoch wie 2020.
Zwischen März und Mai 2021 sind die hohen Zahlen auf antisemitische Manifestationen bei Protesten gegen Corona-Maßnahmen zurückzuführen. Neben Israel-bezogenem Antisemitismus und COVID-Verschwörungen liegen auch Holocaust-Relativierung und Holocaust-Leugnung als Straftat weit vorne. Der Antisemitismus in Österreich, aber auch auf globaler Ebene, ist nach wie vor gegenwärtig und nur zu lebendig.
Er war nie weg
Die Zeithistorikerin und Holocaust-Forscherin Isolde Vogel von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften sieht die Vorstellung eines Verschwindens skeptisch: »Das würde voraussetzen, dass Antisemitismus überhaupt nur in einer bestimmten Phase der Geschichte verhaftet gewesen wäre.« Als Gesellschaft verbinden wir ihn meist mit dem Nationalsozialismus, weil er da in millionenfacher Vernichtung und Verfolgung resultierte. Aber, so Vogel: »Genau wie Antisemitismus nicht erst 1938 über Österreich hereingebrochen ist, ist er auch nach 1945 nicht einfach wieder verschwunden.«
Diese Form des Antisemitismus ist historisch gesehen sogar ein sehr junges Phänomen. Sie war eine politische Bewegung, die sich vor allem im späten 19. Jahrhundert herauskristallisierte. Viel älter ist der historisch gewachsene Antisemitismus mit all seinen Stereotypen von finanziellem Wucher, sexueller Lüsternheit, Weltherrschaft, Ritualmorden und Menschenhass.
Dieses Loslösen vom Begriff der Religion und hin zu einer vagen rassistischen Definition spiegelt sich auch in der Verfolgung in der NS-Diktatur wider: »Die Nationalsozialisten bestimmten, wen sie verfolgten und wer für sie als jüdisch galt. Wer als jüdisch markiert wurde, hatte also nichts mehr mit der religiösen Zugehörigkeit per se zu tun.« Vielmehr ging es um Abstammung und »Blut«, einen eugenischen Gedanken.
Die fälschliche Annahme eines Endes des Antisemitismus hängt auch damit zusammen, dass dieser nach 1945 öffentlich sanktioniert und großteils tabuisiert wurde. Doch in der mangelnden Aufarbeitung, in der bis heute bestehenden Abwehrhaltung, »irgendwas damit zu tun gehabt zu haben«, liege eine Gefahr so Vogel: »Gerade in Österreich haben viele einen massiven Wunsch nach Entlastung von Schuld und Verantwortung. Teilweise wird Kindern in den Familien, aber auch in der Schule immer noch vermittelt, dass dieses Land und seine Leute mit dem Nationalsozialismus nichts zu tun gehabt hätten.«
Versteckt in Codes
Daraus könne auch eine Motivation für Antisemitismus resultieren. Vogel: »Dass man Jüdinnen und Juden, die an die Shoah erinnern, als rachsüchtig imaginiert und sie deswegen attackiert.« Dass es in Europa im Vergleich zu vor 1933 nur noch wenige Jüdinnen und Juden gibt, tut dem keinen Abbruch. Das meine auch der Ausdruck »Antisemitismus ohne Juden«, so Vogel. Dieser wurde vom österreichischen Publizisten Paul Lendvai geprägt und beschreibe die Tatsache, dass der Antisemitismus immer noch da sei, obwohl es kaum noch jüdische Bevölkerung gäbe; dass er keine konkrete jüdische Person brauche, um sich zu artikulieren.
Dass man den Antisemitismus in Österreich vor allem auf die Periode von 1938 bis 1945 beziehe, sei ein Problem, meint Vogel weiter: »Man blendet hier aus, was verklausuliert und nicht so offen geäußert wird.« Dieser latente Antisemitismus sei schwieriger zu erkennen. »Einerseits gibt es Personen, wie etwa Rechtsextreme, die bewusst bestimmte Codes bedienen und, statt ihren Feind als ›den Juden‹ zu benennen, dann von ›der Ostküste‹ oder ›den Globalisten‹ sprechen. Andererseits ist Antisemitismus nicht nur am rechten Rand zu finden, und gerade solche Verklausulierungen nutzen auch Menschen, die sich politisch links verorten.«
Ein Paradebeispiel des modernen Antisemitismus ist der Umgang mit Israel. Auch wenn es legitim ist, die Politik des israelischen Staates zu kritisieren, richten sich diese Attacken doch oft gegen nicht-israelische Juden. Ihnen wird eine Doppelloyalität vorgeworfen, eine Mitschuld an der Situation Palästinas. »Das basiert auf dem alten Ressentiment, dass Jüdinnen und Juden wurzellos seien«, erklärt Vogel dieses Phänomen. »Ihnen wird Internationalität unterstellt – also außerhalb der nationalen Ordnung zu stehen.«
Verschwörungen und Corona
Dass die alten jüdischen Stereotype von Weltverschwörung, Wucher und Menschenhass ebenfalls nicht totzukriegen sind, zeigte zuletzt auch die Pandemie. Hier würde man sehen, meint Vogel, wie bereitwillig die Bevölkerung wegschaue, wenn bei den Demos Rechtsextreme und offene Antisemitinnen und Antisemiten mitmarschieren. »Für mich war es schockierend zu sehen, wie anschlussfähig Antisemitismus auf der Straße ist und wie sehr sich die Menschen selbst verleugnen, wenn sie meinen, dass sie das nicht mitbekommen würden.« Das mache den Antisemitismus auch so resolut. Er ist ein Vehikel, um Krisen und plötzlichen gesellschaftlichen Wohlstandsverlust zu begründen: »Es ist nicht wie im Rassismus ein Treten nach unten, sondern die Vorstellung der Notwehr gegen eine heimliche Übermacht.« Somit ist der Antisemitismus auch nie nur einer politischen Strömung zuzuordnen, sondern findet sich in der Mitte der Gesellschaft, im esoterischen Bereich, in antiimperialistischen, globalisierungskritischen linken Gruppen und natürlich im Rechtsextremismus.
Kann man dem Antisemitismus überhaupt noch etwas entgegensetzen? Es brauche mehr politische und gesellschaftliche Aufklärung, so Vogel. »Das mangelnde allgemeine Wissen darüber, was Antisemitismus ist, ist ein Punkt, bei dem man ansetzen kann.« Ebenso brauche es »Sensibilität dafür zu erkennen, wenn simplifizierende Welterklärungen an den Tag gelegt werden«. Konkret die Ansicht, dass alle Probleme in Einzelpersonen begründet seien und dass Angriffe gegen sie gesellschaftliche Probleme lösen könnten.
Darüber hinaus gelte es, allgemein wachsam zu sein, »dass man alles dafür tut, dass sich so etwas wie die Shoah niemals wiederholt«. Dass der Antisemitismus auf Dauer überwunden werden könne, so optimistisch gibt sich Vogel momentan nicht: »Solange komplexe Probleme auf diese vereinfachende Weise erklärt werden, wird es auch ein antisemitisches Weltbild geben.«
Bei der Antisemitismus-Meldestelle können aktuelle Zahlen zu Übergriffen eingesehen, aber auch Attacken gemeldet melden. Informationen rund um jüdisches Leben in Wien gibt es bei der Israelitischen Kultusgemeinde. Das Wiener Wiesenthal Institut bietet Veranstaltungen und betreibt Forschung zum Holocaust in Österreich.
Anlässlich unseres 25-Jahr-Jubiläums haben wir uns in The Gap 192 »25 Fragen zur Gegenwart« gestellt. Dieser Beitrag beantwortet eine davon.