Warum gibt es immer noch Antisemitismus? – 25 Fragen zur Gegenwart (4/25)

»Nie mehr wieder« ist ein Leitspruch, den sich Österreich auf die Fahnen geheftet hat. Und doch scheint der Anti­semi­tismus hier­zulande – wie auch in anderen Ländern – eher wieder auf dem Vormarsch zu sein. Holocaust-Forscherin Isolde Vogel über die Hintergründe.

© Lukas Weidinger

Antisemitismus wird von manchen Menschen in Österreich bereits als ausge­storben oder aus dem arabischen Raum importiert bezeichnet. Doch die Statistik spricht eine andere Sprache. Die Melde­stelle der Israeli­tischen Kultus­gemeinde in Wien hielt in ihrem Anti­semitismus-Halbjahres­bericht 2021 fest, dass die jüdische Gemeinde seit Beginn der Aufzeich­nungen vor 20 Jahren noch nie mit einer derart hohen Anzahl von gemeldeten Vorfällen konfrontiert gewesen ist. Mit 562 Angriffen war die Zahl doppelt so hoch wie 2020.

Zwischen März und Mai 2021 sind die hohen Zahlen auf anti­semitische Manifes­tationen bei Protesten gegen Corona-Maß­nahmen zurückzuführen. Neben Israel-bezogenem Antis­emitismus und COVID-Verschwörungen liegen auch Holocaust-Relativierung und Holocaust-Leugnung als Straftat weit vorne. Der Anti­semitismus in Österreich, aber auch auf globaler Ebene, ist nach wie vor gegen­wärtig und nur zu lebendig.

Er war nie weg

Die Zeithistorikerin und Holocaust-Forscherin Isolde Vogel von der Öster­reichischen Akademie der Wissen­schaften sieht die Vorstellung eines Verschwindens skeptisch: »Das würde voraussetzen, dass Anti­semitismus überhaupt nur in einer bestimmten Phase der Geschichte verhaftet gewesen wäre.« Als Gesell­schaft verbinden wir ihn meist mit dem National­sozialismus, weil er da in millionen­facher Vernichtung und Verfolgung resultierte. Aber, so Vogel: »Genau wie Anti­semitismus nicht erst 1938 über Österreich herein­gebrochen ist, ist er auch nach 1945 nicht einfach wieder ver­schwunden.«

Diese Form des Anti­semitismus ist historisch gesehen sogar ein sehr junges Phänomen. Sie war eine politische Bewegung, die sich vor allem im späten 19. Jahr­hundert heraus­kristallisierte. Viel älter ist der historisch gewachsene Anti­semitismus mit all seinen Stereo­typen von finanziellem Wucher, sexueller Lüstern­heit, Welt­herrschaft, Ritual­morden und Menschenhass.

Dieses Loslösen vom Begriff der Religion und hin zu einer vagen rassis­tischen Definition spiegelt sich auch in der Verfolgung in der NS-Diktatur wider: »Die National­sozialisten bestimmten, wen sie verfolgten und wer für sie als jüdisch galt. Wer als jüdisch markiert wurde, hatte also nichts mehr mit der religiösen Zuge­hörig­keit per se zu tun.« Vielmehr ging es um Ab­stammung und »Blut«, einen eugenischen Gedanken.

Die fälschliche Annahme eines Endes des Anti­semitismus hängt auch damit zusammen, dass dieser nach 1945 öffentlich sanktioniert und großteils tabuisiert wurde. Doch in der mangelnden Auf­arbeitung, in der bis heute bestehenden Abwehr­haltung, »irgendwas damit zu tun gehabt zu haben«, liege eine Gefahr so Vogel: »Gerade in Österreich haben viele einen massiven Wunsch nach Entlastung von Schuld und Verant­wortung. Teil­weise wird Kindern in den Familien, aber auch in der Schule immer noch vermittelt, dass dieses Land und seine Leute mit dem National­sozialismus nichts zu tun gehabt hätten.«

Versteckt in Codes

Daraus könne auch eine Motivation für Anti­semitismus resultieren. Vogel: »Dass man Jüdinnen und Juden, die an die Shoah erinnern, als rach­süchtig imaginiert und sie deswegen attackiert.« Dass es in Europa im Vergleich zu vor 1933 nur noch wenige Jüdinnen und Juden gibt, tut dem keinen Abbruch. Das meine auch der Ausdruck »Anti­semitismus ohne Juden«, so Vogel. Dieser wurde vom öster­reichischen Publizisten Paul Lendvai geprägt und beschreibe die Tatsache, dass der Anti­semitismus immer noch da sei, obwohl es kaum noch jüdische Bevöl­kerung gäbe; dass er keine konkrete jüdische Person brauche, um sich zu artikulieren.

Dass man den Anti­semitismus in Österreich vor allem auf die Periode von 1938 bis 1945 beziehe, sei ein Problem, meint Vogel weiter: »Man blendet hier aus, was ver­klau­suliert und nicht so offen geäußert wird.« Dieser latente Anti­semitismus sei schwieriger zu erkennen. »Einerseits gibt es Personen, wie etwa Rechts­extreme, die bewusst bestimmte Codes bedienen und, statt ihren Feind als ›den Juden‹ zu benennen, dann von ›der Ostküste‹ oder ›den Globalisten‹ sprechen. Anderer­seits ist Anti­semitismus nicht nur am rechten Rand zu finden, und gerade solche Verklausu­lierungen nutzen auch Menschen, die sich politisch links verorten.«

Ein Parade­beispiel des modernen Anti­semitismus ist der Umgang mit Israel. Auch wenn es legitim ist, die Politik des israelischen Staates zu kritisieren, richten sich diese Attacken doch oft gegen nicht-israelische Juden. Ihnen wird eine Doppel­loyalität vor­geworfen, eine Mitschuld an der Situation Palästinas. »Das basiert auf dem alten Ressenti­ment, dass Jüdinnen und Juden wurzellos seien«, erklärt Vogel dieses Phänomen. »Ihnen wird Inter­natio­nalität unterstellt – also außerhalb der nationalen Ordnung zu stehen.«

Verschwörungen und Corona

Dass die alten jüdischen Stereotype von Welt­verschwörung, Wucher und Menschen­hass ebenfalls nicht totzu­kriegen sind, zeigte zuletzt auch die Pandemie. Hier würde man sehen, meint Vogel, wie bereit­willig die Bevölkerung weg­schaue, wenn bei den Demos Rechts­extreme und offene Anti­semitinnen und Anti­semiten mit­marschieren. »Für mich war es schockierend zu sehen, wie anschluss­fähig Anti­semitismus auf der Straße ist und wie sehr sich die Menschen selbst verleugnen, wenn sie meinen, dass sie das nicht mitbe­kommen würden.« Das mache den Antis­emitismus auch so resolut. Er ist ein Vehikel, um Krisen und plötz­lichen gesell­schaft­lichen Wohlstands­verlust zu begründen: »Es ist nicht wie im Rassismus ein Treten nach unten, sondern die Vor­stellung der Notwehr gegen eine heimliche Über­macht.« Somit ist der Anti­semitismus auch nie nur einer politischen Strömung zuzu­ordnen, sondern findet sich in der Mitte der Gesellschaft, im eso­terischen Bereich, in anti­imperia­listischen, globalisierungs­kritischen linken Gruppen und natürlich im Rechts­extremismus.

Kann man dem Anti­semitismus überhaupt noch etwas entgegen­setzen? Es brauche mehr politische und gesell­schaftliche Auf­klärung, so Vogel. »Das mangelnde all­gemeine Wissen darüber, was Anti­semitismus ist, ist ein Punkt, bei dem man ansetzen kann.« Ebenso brauche es »Sensi­bilität dafür zu erkennen, wenn simplifi­zierende Welt­erklärungen an den Tag gelegt werden«. Konkret die Ansicht, dass alle Probleme in Einzel­personen begründet seien und dass Angriffe gegen sie gesell­schaftliche Probleme lösen könnten.

Darüber hinaus gelte es, allgemein wachsam zu sein, »dass man alles dafür tut, dass sich so etwas wie die Shoah niemals wiederholt«. Dass der Anti­semitismus auf Dauer über­wunden werden könne, so optimistisch gibt sich Vogel momentan nicht: »Solange komplexe Probleme auf diese verein­fachende Weise erklärt werden, wird es auch ein anti­semitisches Welt­bild geben.«

Bei der Antisemitismus-Meldestelle können aktuelle Zahlen zu Übergriffen eingesehen, aber auch Attacken gemeldet melden. Informationen rund um jüdisches Leben in Wien gibt es bei der Israelitischen Kultus­gemeinde. Das Wiener Wiesenthal Institut bietet Veran­staltungen und betreibt Forschung zum Holocaust in Österreich.

Anlässlich unseres 25-Jahr-Jubiläums haben wir uns in The Gap 192 »25 Fragen zur Gegenwart« gestellt. Dieser Beitrag beantwortet eine davon.

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