25,9 Millionen Container in der Standard-Rechengröße von 20 Fuß wurden im größten Hafen der Welt in Singapur 2009 umgeschlagen. Heute pflügen Riesenfrachter mit bis zu 13.000 Containern an Bord durch die Zwischenräume einer vernetzten Weltwirtschaft. Zwei aktuelle Filme nehmen die Schifffahrt in den Blick. Der eine erzählt vom Siegeszug des erst 1966 in Dienst gestellten Containers, der andere von kommunistischen Hafenzombies.
»Das erste menschliche Wesen, das ich nach meiner Geburt zu sehen bekam, war ein Schiff«, heißt es im neuen Roman »Herr Groll und der rote Strom« des marxistischen Binnenschifffahrtsfans Erwin Riess. Das ist eine schöne, zeitgemäß-unzeitgemäße Bemerkung eines Mannes, der in seinen Romanen und scharfzüngigen journalistischen Artikeln gern über die Lebenslügen der Bourgeoisie lustig macht und über die Austreibung der Humanität durch die Kapitalisierung aller Lebensverhältnisse spottet. Das Schiff als Vehikel der Passage, als Medium des Anderswo-Hinkommens und Anders-Werdens, das zwischen den Staaten und Städten als geschlossene architektonische Form am offenen Wasser kreuzt, hat auch Michel Foucault, den Analytiker der Disziplinargesellschaft, fasziniert. Für ihn war das Schiff der idealtypische andere Ort, der zugleich die Imagination eines anderen Lebens vorantreibt. »Das Schiff ist die Heterotopie par excellence. In den Zivilisationen, die keine Schiffe haben, versiegen die Träume.«
Tatsächlich scheitern heute aber, sieht man sich den globalen Handel zu See an, auch viele der Träume an den Grenzen zwischen Nord und Süd am Strand. Bzw. man sieht sie nicht mehr, weil man im Schiffsgewerbe immer weniger Menschen sieht. Gerade der moderne Hafen mit seinen unermüdlichen Kränen ist ja zu einem Sinnbild für automatisierte Produktionsabläufe geworden, die den Menschen mit seinen komischen Bedürfnissen wie Lohn, Lust und Laune als lästiges Relikt unperfekter, altmodischer Wertschöpfungsketten ansehen.
Zwei Filme (der eine wurde bei der Viennale vorgestellt und läuft im Frühjahr regulär im Kino an, den anderen gibt’s nun auf DVD) zeigen, was an die Stelle der kartoffelzerdückenden Seebären getreten ist: die Logistik – bzw. der Zombie. Alan Sekulas und Noel Burchs dokumentarischer, klug Zusammenhänge schaffender und brillant visualisierter Filmessay »The Forgotten Space« rekonstruiert die Beschleunigung und den enormen Rationalisierungsschub des Welthandels am Seeweg und kritisiert die daraus resultierenden Verwerfungen am Land am Beispiel der standardisierten Hülle des Containers, hinter der sich jede beliebige Ware verstecken und tauschen lässt. Überall, so die Botschaft, gräbt sich die Logik der Effizenzsteigerung ihre Schneisen in die brüchigen Gebäude des im Bezug auf diese ökonomische Gewalt rückständischen Lokalen. In den aufgrund genau dieser Billigstarbeitskräfte boomenden asiatischen Metropolen zwischen China und Südkorea sorgt man sich schon länger um die steigenden Lohnkosten im Hinterland; bei Antwerpen verschlingt der Expansionsdrang der Hafenimporteure so nebenbei ein Dorf im Hinterland. Es muß geräumt werden, weil der Hafen Antwerpen mitspielen will im Konzert der ganz Großen in Europa, mit Rotterdam und Hamburg.
Agitprop und BWL-Fachchinesisch
Der Film »Hölle Hamburg« aus dem Jahr 2008 befasst sich wiederum mit dem High Tech-Hafen an der Elbe und seiner Vergangenheit als Schauplatz erbitterter Kämpfe zwischen Kommunisten und Nazis. Er geht zwar auch vom Status Quo des entfesselten globalen Wettbwerbs aus, der es billiger macht, große Gütermengen von Shanghai nach Hamburg zu verschiffen als von Hamburg ins nächste Dorf. Aber daraus entwickeln Peter Ott und Ted Gaier (ja, der von den Goldenen Zitronen) ein anarchistisches Revolutionsstück mit einer tüchtigen Ladung Verfremdungspfeffer: Zunächst loben Manager des Hamburger Hafens ebendiesen »im BWL-Fachchinesisch«, später reden »konspirative Phillipinos Parteichinesisch auf plattdeutsch« (Dietrich Kuhlbrodt). Alles ist verhext hier, die Lebenden sprechen in Trance mit den Toten, und die Revolution singt ihre fremden Agitprop-Lieder. Die Mannschaft eines im Hamburger Hafen von seinen Eignern verlassenen Schiffs beschwört nämlich durch Voodoo-Rituale die Geister der 1930 gegründeten Hamburger Zelle der ISH, der Internationalen der Seefahrer und Hafenarbeiter. »Gebt euch der reflektorischen Erregung hin!«, heißt es immer am Beginn der Kontaktaufnahme mit der Zombiewelt. Der Appell zur Mobilisierung von Herz und Hirn im Sinne eines Revolutionär-Werdens des Schauspielers ist vom bolschewistischen (und 1940 unter Stalin in Ungnade gefallenen und hingerichteten) Theaterregisseur Wsewolod E. Meyerhold entlehnt. Er muss in »Hölle Hamburg« gegen die klandestinen Machenschaften eines gegenwärtigen Geheimdiensts auch oft genug in Stellung gebracht werden. Die Verfemten, die Zombies verlorener Arbeiterkämpfe helfen so mit beim Traum, dem Lauf der Geschichte eine antikapitalistische Wendung zu geben. Die Rache einer widerständigen Vergangenheit an einer kaputten Gegenwart des prekarisierten, stolzberaubten Lebens erzählt so auch etwas davon, was an Affekten und Effekten – nicht zuletzt mit und durch den wirklichkeitserzeugenden Spuk der Kinobilder – möglicherweise zu erzielen wäre, würde man noch in sie vertrauen.
Denn wenn auch die Menschen an seinen Ufern oft festsitzen: Über das Meer, über diesen »vergessenen Raum« gleiten nach wie vor nicht nur die Waren und Rohstoffe, sondern auch die Ideen und die Träume. Aus der Vergangenheit in die Zukunft, von unten nach oben. Fast wie im kitschigen Gesellschaftsbild von »Titanic«.