51% der klimaerwärmenden Gase weltweit werden angeblich durch Viehzucht ausgelöst. Müssen also nicht nur wir, sondern auch die Tiere ihr Leben ändern – oder ist das just another eurozentrische Anmaßung?
Die Hamburger Neo-Vegetarierin und Autorin Karen Duve macht mit ihrem protokollarischen Entwicklungsroman »Anständig essen« eine gute Figur, wenn es darum geht, sich dem kurrenten Imperativ der freiwilligen Selbstoptimierung zu unterwerfen. Ihr »Selbstversuch«, der Geißel des industrialisierten Fleisches zu entrinnen, hat sie nicht nur zu einem bis heute andauernden Flirt mit dem Adel der Veganer inspiriert, sondern ihr sogar für einige Zeit die Freuden der fruganen Lebensform geschenkt. Der messianische Frutarismus, dem sich allerdings weltweit nur sehr wenige Jünger und Jüngerinnen verpflichtet fühlen, besagt: Du sollst nichts essen, was dir die Natur nicht freiwillig gibt. Kartoffel ernten, nach Salat graben, Äpfel pflücken, Bäume schneiden – all das ist tabu. Von Tieren zwischen Rind und Einzeller reden wir erst gar nicht. Erlaubt ist nur, was im sprichwörtlichen Sinn vom Himmel bzw. von den Bäumen, Sträuchern und Pflanzen fällt, weil es nicht mehr weiter gedeihen (oder soll man sagen leben?) will, nämlich die Früchte von Pflanzen. Im Orden der Fruganer trifft so die steinalte Selbstkasteiung des Bettelmönchs auf die aktuelle Forderung nach Nachhaltigkeit und Umweltverträglichkeit. Duves Umerziehung ihrer selbst fängt so an, als würde Sloterdijks Appell zur Rehabilitierung der menschlichen »Vertikalspannung« zwischen Tier und Übermenschwerdung namens »Du musst dein Leben ändern« noch in ihrem Ohr nachdröhnen: »An dem Tag, an dem ich beschloss, ein besserer Mensch zu werden, stand ich morgens in einem Rewe-Supermarkt und hielt einen flachen Karton mit der Aufschrift Hähnchen-Grillpfanne in der Hand.«
Sloterdijks philosophischer Gewährsmann Friedrich Nietzsche hätte Duve vermutlich aufgrund der ihr attestierten demütigen Einübung in die Sklavenmoral mit einem heftigen Schnauber seines Schnauzers verlacht (während Hardcore-Straight Edge-Bands wie Fugazi wohl als angemessene Band-T-Shirt-Lieferanten für den moralischen Rigorismus der anständigen Esserin wären). Sloterdijks eigenes Verhältnis zur Selbststeigerung erscheint aber bei genauerem Hinsehen selbst ambivalent. Während er auf der einen Seite nicht müde wird, die im Namen einer situativen Political Correctness forcierte Opfermentalität der in diversen kulturellen Stellungskriegen verhafteten Benachteiligten dieser Welt nach Gutsherrenart abzutun und deren politische Ansprüche durch die Hoffnung auf generöse Almosen der Besitzenden zu ersetzen (siehe Sloterdijks Alternativvorschläge zum Hartz 4- »Versorgungsstaat«), kann er sich durchaus für einen (mit PC kompatiblen), asketischen Idealismus erwärmen, den er zwischen Hungerkünstlern, Brahmanen, Gurus und anderen Formen einer auf Vergeistigung hinzielenden Lebensweise der Weltentsagung festmacht. In diesen Ausweitungen der Übungszone finden sich dann eine Dynamik der Arbeit an sich bzw. Sorge um sich, die sich paradoxerweise sowohl als Selbststeigerung wie auch als Selbstbescheidung bezeichnen ließe. Optimierung durch Verzicht, bzw. Demut als elitäre Größe. Gefragt ist, in der (freilich bei Sloterdijk von konkreten gesellschaftlichen und politischen Kontexten weitgehend entkoppelten) Morgenröte der schönen neuen Welt ein Subjekt, das sich aus dem Bannkreis althergebrachter Subjektivierungsformen befreit. Ein Subjekt, das nicht nur keine Macht mehr hat, sondern auch nicht mehr von Machtformen (des Sexismus, des Rassismus usw.) durchwirkt ist.
Mit ein wenig retrofuturischer Fantasie könnte man dieses Subjekt auch einen Neuen Menschen nennen – ein Konstrukt, wie ihn der Sowjetkommunismus der 1920er Jahre ebenfalls im Auge hatte. Dieser Neue Mensch ist einer, der mit den expliziten und impliziten didaktischen Anforderungen, wie sie im Namen von Political Correctness an eine verbesserungswürdige Realität gestellt werden, möglicherweise mehr gemeinsam hat, als das beiden Teilen lieb ist. Der Neue Mensch bemüht sich um eine Sprache, die nicht mehr denunziert, die niemanden mehr ausschließt, aber auch niemanden paternalistisch einschließt. Der Neue Mensch weiß, das zum Beispiel Weiß-Sein genauso eine Konstruktion ist wie Mann- oder Frau-Sein. Er hat keine Ethnie, keine Nationalität und kein biologisches Geschlecht mehr. Er hat den Unfug des Verfassungspatriotismus und die Falle des essentialistischen Multikulturalismus genauso überwunden wie den Gender-Eiertanz. Er ist weder XX noch XY, sondern trans. Auf dem Weg dorthin freilich muss der alte Mensch, bevor er wirklich neu aufgesetzt ist, noch einiges an sich reflektieren – und beständig verändern.
Stellvertretend für die insistierende (Selbst-)Kritik an den Geschlechterrollen sei an dieser Stelle ein Ankündigungstext eines Vortrags der Gender-Professorin Gundula Ludwig genannt. Darin geht die in Marburg lehrende Wissenschaftlerin (zu Recht) davon aus, dass die rigide Regelung von geschlechtsspezifisch »richtigem« Verhalten von Frauen und Männern sowie die Grenzziehung zwischen »normaler« und »perverser« Sexualität hierzulande vorbei sei. Doch damit ist aus ihrer Sicht nicht unbedingt schon etwas gewonnen. Denn: »Haben Geschlecht und Heteronormativität für die gesellschaftliche Ordnung an Bedeutung verloren? Oder sind, durch die neoliberale Flexibilisierung auch von Normen, zwar einerseits rigide Formen des Überwachens von Geschlecht und Heteronormativität aufgeweicht, zugleich aber die Weisen, wie geschlechtliche und sexuelle ›Normalität‹ hergestellt wird, subtiler geworden?« Die Morgenröte lässt also wohl noch auf sich warten. Und vielleicht kommt sie nie.