In seinem neuen Buch blickt Wolfgang Kos anhand der titelgebenden »99 Songs« zurück ins 20. Jahrhundert. Im Interview erzählt er über die Entstehung des Buchs, die Songauswahl und die außergewöhnliche Entwicklung des Hip-Hop.
Wie sind Sie auf die Idee gekommen die Geschichte des 20. Jahrhunderts über Songs zu erzählen?
Dass ich mich auf diese Weltreise eingelassen habe, hängt mit meiner eigenen Mischidentität zusammen. Ich war von meinem 19. Lebensjahr an sehr lange Radiogestalter, Journalist und Moderator bei der »Musicbox«, der damaligen Jugendredaktion von Ö3. Die aktuellen Popsongs haben wir dabei immer als gesellschaftspolitische Statements behandelt. Seit den 80er-Jahren war ich Feuilletonist bei Ö1, Sendungen wie »Diagonal« hatten einen generalistischen Ansatz mit Neugierde für Gott und die Welt als Prinzip. Später war ich dann im kulturwissenschaftlichen Bereich als Historiker und als Direktor des Wien Museums tätig. Als Kurator habe ich die Struktur von Ausstellungen, bei denen sich ein Ganzes assoziativ anhand von präzise ausgewählten Objekten ergeben soll, schätzen gelernt. So gesehen ist das Buch auch in gewisser Weise eine Ausstellung: Ich wollte interessante Lieder auswählen, um auf bestimmte Phänomene und Entwicklungen im 20. Jahrhundert hinzuweisen.
Warum wurden genau 99 Songs gewählt und nicht 100?
Mit der Vorgabe »99 Songs« war eine Art Schutzzaun gegeben, auch um Freiheit bei der Wahl von für ihre Zeit besonders relevanten Songs aus vielen Genres zu haben. Die Zahl 100 hätte lediglich eine popstatistische Rankingliste in Richtung »Die Besten« und »Die Erfolgreichsten« erwarten lassen.
Wie lief die Auswahl der Songs ab? Es gab doch bestimmt Kriterien, welche Songs genommen werden und welche nicht.
Es war klar, dass bestimmte Songs einfach erwartet werden. In einem Buch, das wesentliche Songs eines ganzen Jahrhunderts thematisiert, dürfen Lieder wie »Imagine« oder »Heroes« oder auch Klassiker und Meisterwerke von Cole Porter, Jimi Hendrix oder Randy Newman einfach nicht fehlen. Somit waren in etwa 50 % der Lieder quasi gesetzt. Zum anderen musste ich aber beispielsweise auch Songs finden, die für andere Bereiche repräsentativ waren, etwa afrikanische Popsongs, Broadway-Songs der 30er-Jahre oder auch frivole Schlager der Weimarer Republik. Ein Kriterium war, dass es Songs sein sollten, die vielen Menschen wichtig waren oder die kollektiv in Erinnerung geblieben sind. So spielte auch der jeweilige Erfolg der Songs eine entscheidende Rolle. Aber ich habe eben auch ein paar reingeschmuggelt, die fast niemand mehr kennt. Zum Beispiel die von Johnny Cash bekannt gemachte »Ballad Of Ira Hayes« aus dem Jahr 1962, ein bedeutender Protestsong gegen die Diskriminierung der amerikanischen Ureinwohner.
Das Ganze ist ja irgendwie doch eine subjektive Auswahl. Haben Sie Angst, dass irgendwer das Buch liest und sich denkt: »Wie konnte er nur diesen oder jenen einen wichtigen Song nicht mit hineinnehmen?«
Nein, diese Angst habe ich nicht. Als Historiker sehe ich mich zu einer gewissen Objektivität verpflichtet. Es ist zwar in Spuren ein subjektives Buch, jedoch habe ich immer versucht wesentliche, interessante und relevante Lieder zu nehmen, die für, aber auch gegen ihre Zeit standen. Somit waren es auch viele Songs, bei denen eine Begründung für deren Wichtigkeit gar nicht erst notwendig war. Die 50er-Jahre können beispielsweise nicht thematisiert werden, ohne dass dabei die Geschichten rund um so ikonische Nummern wie »Tutti Frutti« von Little Richard, »Hound Dog« vom Duo Leiber/Stoller oder »Johnny B. Goode« von Chuck Berry erzählt werden.
Gibt es nach den 2000ern immer noch Songs, die geschichtlich oder auch generell so wichtig sind wie manche aus dem Buch?
Obwohl sich die Formen und Produktionsweisen der Songs mit der Zeit verändert haben, gibt es solche Lieder natürlich immer wieder. Ich kann mir durchaus vorstellen, dass die Gruppe Bilderbuch bereits ein oder zwei Alben gemacht hat, die in Österreich genauso bleiben werden wie die von Falco. Aber generell hat die Popmusik heute keine ähnlich dominante Rolle als kulturelles Leitmedium wie damals in den Sixties. Die Superstars sind Sportler, für Gesprächsstoff sorgen die neuesten TV-Serien.
Kann man das also immer erst etwas später sagen?
Ja, historische Einordnungen benötigen immer einen gewissen Abstand. Ich glaube, dass ein Buch wie dieses zu Ende des letzten Jahrhunderts anders ausgesehen hätte. Damals galt immer noch die weiße »progressive« Popmusik als bahnbrechend. Speziell in Europa hat sich erst relativ spät unter Popfans herumgesprochen, dass die schwarze Musik besonders innovativ war. Hier hat es erst einen gewissen Abstand gebraucht, um zu bemerken, dass diese Musik – ob von Marvin Gaye oder auch James Brown – epochal war. 1982, als ich selbst noch bei der »Musicbox« war, ist mit »The Message« von Grandmaster Flash & The Furious Five die erste radiotaugliche Platte aus der abseits des Musikbusiness entstandenen New Yorker Hip-Hop-Szene erschienen. Natürlich war klar, dass es eine derartige Musik, die nicht mit Instrumenten gemacht wird, sondern aus Passagen anderer Platten, noch nie gegeben hat. Dass das etwas Besonderes ist, haben alle gemerkt. 99 % hätten jedoch gesagt, dass es sich um eine interessante Phase handelt, die aber wieder verschwinden wird. Niemand hätte geahnt, dass mit Nummern wie »The Message« ganze Wildbäche starteten und dass Rap zu einem globalen Phänomen werden sollte – bis heute.
Hat Rap dann auch eine größere Bedeutung im Buch?
In den 80er- und 90er-Jahren habe ich Hip-Hop nur am Rande verfolgt. Beim Schreiben des Buchs musste ich dann sozusagen nachsitzen und bald war auch mir klar, wie erstaunlich sich Rap weiterentwickelt hat.
Bei Rap spielen auch Dinge wie Rassismus oder die Stellung Schwarzer in Amerika eine wichtige Rolle. Wurde dieser Aspekt auch beachtet?
Das ist ein Thema, das immer wieder im Buch zu finden ist und sich durchzieht. Das geht von Billie Holidays »Strange Fruit« von 1938, diesem beklemmenden Song über gelynchte Männer, die auf einen Baum geknüpft wurden, und »We Shall Overcome« bis »I’m Black And Proud« von James Brown und N.W.A. (Niggers With Attitude) mit »Fuck Tha Police« von 1989. Anlass zu diesem Song von N.W.A. waren Polizeiübergriffe auf Schwarze aus Compton, einer Vorstadt von Los Angeles mit hoher Kriminalitätsrate, aus der auch die Gruppe selbst kam. Es ist spannend, diesen knüppelharten, zornigen und antirassistischen Rap-Song mit »We Shall Overcome« in Beziehung zu setzen, dem Kampflied des gewaltlosen Widerstands der Bürgerrechtsbewegung der 50er- und 60er-Jahre. Solche Bögen ergeben sich aber meist erst im Arbeitsprozess.
Sind dann in diesem Prozess auch wieder Songs herausgeflogen?
Ich ahnte es zwar, wusste jedoch nicht genau, dass es innerhalb eines Jahres fast unmöglich ist, den Hintergrund von 99 Songs bis in die Tiefe zu recherchieren, die jeweiligen Zusammenhänge kennenzulernen, wesentlichen Fragen nachzugehen und schließlich einen zwei- oder vierseitigen Text darüber zu schreiben. Fast alle Texte haben eine Kürzungsphase hinter sich, bei der auch Wichtiges wieder herausfliegen musste. Diese Komprimierungsarbeit dann 99 mal immer wieder von Neuem zu machen, war eigentlich ein Wahnsinn und hätte mich fast ins Verderben gestürzt (lacht). Deshalb wurden Texte, wenn sie dann fertig waren, auch nicht wieder hinausgeschmissen. Klar ist aber auch, dass ich immer noch eine B-Liste von Songs habe, die einmal geplant waren. Dazu zählt beispielsweise »Je t’aime … moi non plus« von Serge Gainsbourg und Jane Birkin. Wichtiger jedoch ist, dass alle Songs meiner Anthologie eine über die Musik hinausweisende Aussagekraft besitzen und auch auf gesellschaftliche Hintergründe und zeitspezifische Tiefenstrukturen verweisen. Wenn jemand sagt, dass ihm »Good Vibrations« von den Beach Boys abgeht, frage ich einfach zurück: Hätte ich dafür »Die Ballade von Mäckie Messer« aus der »Dreigroschenoper« weglassen sollen? Oder das Partisanenlied »Bella Ciao«? Oder das allererste Ökologielied, »Big Yellow Taxi« von Joni Mitchell?
Könnte man das Ganze bezogen auf die Anzahl der Songs auch noch einschränken?
Das wäre das andere Extrem, das vielleicht auch funktioniert. Überraschenderweise gibt es einige Bücher, die nur von einem einzelnen Lied handeln. Das Berühmteste ist von Greil Marcus und behandelt Bob Dylans »Like A Rolling Stone«. Es gibt auch ein wunderbares Buch des Romanciers Jonathan Lethem über »Fear Of Music«, eine Schlüssel-LP der Talking Heads. Dieses Buch erzählt nur von diesem einen Album, mit dem sich der Autor einst total identifizierte. Unter den 99 Songs in meinem Buch ist beispielsweise auch »Waterloo Sunset« von The Kinks, dieses melancholische Kontrast-Lied zum Pop-Rummel der Swinging Sixties. Rund um diesen Song ein Buch zu schreiben, ist in jedem Fall leichter als mit 20 Songs eine Geschichte des dritten Jahrtausends.
»99 Songs – Eine Geschichte des 20. Jahrhunderts« von Wolfgang Kos ist am 30. Oktober 2017 im Brandstätter Verlag erschienen.