Das Doppel-Gestern von hypnagogischem Pop ist endlich Retro-Retro. Das, was man sich früher immer als Zukunft vorgestellt hat, ist längst schon wieder vorbei. James Ferraro liefert mit "Far Side Virtual" ein Album, das so gegenwärtig ist, dass es weh tut. Aufwachen Bitte! Bling!
James Ferraro ist bei weitem kein Unbekannter, seine Post-Noise-Platten wurden in den letzten zehn Jahren ausgiebig sowohl von Simon-Retro-Reynolds als auch David-Wire-Keenan besprochen und zusammen mit seinem Brother-in-Tape Spencer Clarke war er lange Zeit als The Skaters unterwegs und mischte nostalgisch die Noise-Szene auf. Im Laufe der Zeit dürfte er soviele retrofuturistische Artefakte angesammelt haben, dass es irgendwann zum Overkill kam. Alte Synthies, ausgeleierte VHS-Tapes und alle möglichen weiteren Marginalien der Trash- und Pop-Kultur bildeten sein Repertoire, dann hat er sich ein MacBook angeschafft.
Ocarina Of Time
Playstation 3, Facebook Chat, Garage Band, Skype, Second Life, iPad – all diese kleinen Teilchen und Informationsbrösel glitzern durch das Ethernet und machen ständig Sounds und transformieren sich allmählich in etwas Neues, noch weitgehend Unverständliches. Wenn nämlich die Playstation morgens mit der ersten Bong startet und zum zigtausendsten Mal ihr Startup-Sound erklingt, ist das längst schon mehr »hypnagogisch« als verwaschene Kindheitserinnerungen an die Plattensammlung der Eltern oder anderer romantischer Zierart aus der Vergangenheit.
Generikum als Distinktion
Das akribische Zusammentragen physikalischer Objekte ist in einer post-physischen Welt dem Sammeln von Gefühlen, Eindrücken, visuellen Reizen und Sounds gewichen. Das O- wird zum Abjekt und das seismisch-schlingernde kollektive Bewusstsein gerät ein weiteres Mal ins Staunen, wenn die letzte mögliche Musik ein mit Leere kandiertes Fahrstuhlalbum mit Presets ist. Auf seiner Platte "Far Side Virtual" macht James Ferraro genau das: Er nimmt bekannte Melodien, gewohnte Sounds und schichtet Tracks die eher Hintergrundmusik für eine Powerpoint-Präsentation als Pop sind. Durch diese totale Gegenwärtigkeit und die scheinbar komplett austauschbaren Sounds entsteht eine blank polierte Fensterscheibe, ein filigranes Gut, das komplett durchsichtig zu sein scheint und sich irgendwo an den Rändern dessen, was wir wahrnehmen, einnistet.
Das Ende des Zynismus
Verbindend bleiben die schönen Erinnerungen, die Fensterfronten an der Wallstreet, die – auf einer Seite spiegelnd auf der anderen durchsichtig – sinnbildlich für Ferraros Album stehen: Alles ist durchlässig, spiegelt sich immer wieder selbst und erscheint dann auf der anderen Seite aufs Neue. Das ist gleichzeitig New-Age-Spiritualität und Tumblr-Religion. Diversifikation und Zusammenspiel, Vernetzung und Vereinsamung. Der Sound ist tief kommerziell, die Hintergrundmusik zu einem Shoppingtrip in der Mall of America. Das ist teilweise gar nicht so einfach anzuhören und verlangt vom Rezipienten einen gewissen Willen sich auf die Thematik einzulassen und sich mit den glitzernden und nervigen Artefakten der Gegenwart zu konfrontieren. Wenn in ein paar Tausend Jahren ein Zukunftsarchäologe irgendwo eine Kiste ausgräbt, wird darin James Ferraros Album neben einer Ausgabe der Microsoft Encarta von 1997 und einer Limited Edition Karl Lagerfeld Coca-Cola Light-Dose zu finden sein.Von meinem iPad gesendet.
"Far Side Virtual" von James Ferraro ist bereits via Hippos In Tanks / Altered Zones erschienen.