Wo warst du, als Cher gestern die Stadthalle weihte?
Nahezu jeder Mensch weiß, wer Cher ist, und nur die allerwenigsten bezweifeln im geringsten, welchen ikonischen Stellenwert sie sich durch ein über 50 Jahre langes Schaffen erarbeitet hat. Und doch stellt man sich manchmal Fragen. Zum Beispiel, warum Cher sich entschieden hat, nicht nur für den zweiten Teil der »Mamma Mia«-Saga ABBA zu covern, sondern ein ganzes Album nachzuschießen. Wer Cher gestern auf ihrer »Here We Go Again Tour« in der Wiener Stadthalle zwischen zwei ausladend romantischen Stiegenaufgängen »Fernando« fühlen hörte, beschäftigt sich nicht mehr mit diesem ungläubigen Zweifel.
Bewusst wird hier religiöses Vokabular angedeutet, denn Cher inszeniert sich in einem ihrer zahlreichen Outfits – die teilweise nur für einen Song herhalten – mit Heiligenschein und einem güldenen Dress, das Erzengel schreit, während die Hintergrundanimation von Wellen in der Brandung Botticellis Venus andeutet. Ein ganz anderer Rahmen und doch ein ähnlicher Crowd-Pleaser: »Welcome to Burlesque« aus dem 2010 erschienenen Musikfilm. Es ist eine Herausforderung, derart diverse Stile, Dekaden und Genres in einer Bühnenshow zu vereinen – und doch haben hier ausgiebige Gitarrensoli, Dubstep-Remixes, TrapezkünstlerInnen und »I Got You Babe« nebeneinander Platz, ohne wild gemischt zu wirken. Alles ist immer eindeutig Cher.
Die persönliche Cher zeigt sich bereits nach den ersten beiden Songs, wenn sie in einer ungewöhnlich langen Episode von ihrem 40. Geburtstag erzählt. Von einer Absage, weil sie für einen Film »zu alt und unsexy« gewesen sei. Von einem unguten Kritiker, dem sie klar machte, er habe sie nicht »unter einem Stein gefunden«, sie habe sich als legitime Schauspielerin längst bewiesen. Die Empowerment-Ansage bleibt nicht lange implizit: Schon bald darauf ermutigt Cher Frauen jeden Alters, zu tun, was auch immer sie tun wollen, und zu lassen, was auch immer sie nicht tun wollen – eine Rede, die im komplett bestuhlten Saal bei allen gleichermaßen ankommt.
Ein paar wenige Fragen bleiben auch nach einem Cher-Konzert, wenngleich allerspätestens mit dem Pflichtstück »Believe« in Totenkopfjeans eigentlich nur noch Glaube übrig bleibt. Frage 1: Warum wird Cher das Anreiten auf einem Plastik-Elefanten in einer glitzernden Variante des traditionell indischen Sari nicht als Cultural Appropriation angekreidet? Frage 2: Warum wählt man für eine derart campy Ikone mit riesigem Einfluss auf die LGBTIQ-Musikszene mit dem Schweizer Crimer eine zugegeben nicht schlechte Vorband, die sich mit Angewandte-Ästhetik und New-Wave-Agenda aber ganz woanders verortet? Frage 3: Warum schickt Der Standard Karl Fluch auf ein Cher-Konzert?
Für alle anderen offenen Fragen zu Chers Lifetime Achievement und einen kulturhistorischen, chronologischen Überblick über Chers Personas sei hiermit die Musical-Aufbereitung von Chers Leben in der 10. Staffel von »RuPaul’s Drag Race« empfohlen – und natürlich einer der weiteren Livetermine auf der (vorerst) letzten Welttour einer unvergleichlichen Künstlerin.
Auf ihrer so genannten Abschieds-Welttour wird Cher unter anderem noch mehrmals in Deutschland Halt machen. Alle Infos für Spontane gibt es hier.