In seiner Modekolumne »Einteiler« bespricht Gabriel Roland unter dem Motto »die österreichische Modeszene Stück für Stück« jeweils ein Teil aus einer Kollektion. Dieses Mal: eine Sweater Vest von Charlotte Defant.
»Wie viele Löcher haben deine Socken?« So fängt einer der vom kindlichen Sophismus entwickelten Schulhofdialoge an. Wird – egal ob ertappt oder empört – entgegnet, dass man selbstverständlich keine löchrigen Socken trage, so setzt einen das Gegenüber mit der triumphierenden Frage, wie man denn dann die Füße reinbekommen habe, sogleich argumentativ schachmatt. Das Leben schleudert einem derart profunde Rätsel in der Regel nicht ohne Grund entgegen. Es ist daher nicht weiter überraschend, wenn man nach jahrelanger Kontemplation dieses philosophisch-rhetorischen Winkelzugs schließlich zur Einsicht gelangt, dass Kleidung mindestens so sehr durch ihre Lücken definiert ist wie durch die Substanz, als die sie eigentlich wahrgenommen wird. Genauso wie sich der Körper erst mithilfe seiner Öffnungen in Beziehung zu seiner Umwelt bringen, sie spüren und mit ihr kommunizieren kann, braucht auch Gewand Leerstellen, um zu funktionieren.
Voluminös selbstbewusst
Als Charlotte Defant inspiriert von chinesischen Pullunderträger*innen ihre Sweater Vest entwarf, war es entscheidend, den doch etwas geriatrischen Golfclubgeschmack abzustreifen, der diesem Kleidungstypus anhaftet. Statt Strick setzte die Designerin Mantelstoff ein, weitete den Schnitt und die Öffnungen, was der Weste ein voluminöses, selbstbewusstes Auftreten gibt. Ergebnis ist ein eigenständiges Kleidungsstück, das ohne Geschlechtszuweisung auskommt und stets individuell angepasst wird. Schließlich ist das Verhältnis zwischen zu bekleidendem Körper und Gewand ein viel komplexeres, wenn das eine den anderen nicht einfach nur mit einer unmittelbaren Schicht bedeckt, sondern ihn mit einem zweiten Körper umgibt, der nach seinen eigenen Gesichtspunkten funktioniert. Das In-Verhältnis-Bringen dieser beiden Systeme ist eine der Kerndisziplinen von Mode.
Das Management der Öffnungen eines Kleidungsstücks ist nicht die geringste der Herausforderungen, die es in der Gestaltung der Beziehung zwischen Körper aus Fleisch und Körper aus Stoff zu beachten gilt. Defant hat den Halsausschnitt, die Armlöcher und das Reinschlupfloch der Sweater Vest sehr großzügig bemessen. Das sorgt gemeinsam mit der insgesamt blockigen Form für eine gewisse Entkoppelung der Bewegungen von Mensch und Gewand. Man schwimmt sozusagen in einem Medium, das einem nicht restlos gehört. Das sieht nicht nur gut aus, sondern erinnert noch dazu an die eingangs angestimmte, quasi-taoistische Lehre von der Wichtigkeit der Öffnungen. Ein komplett geschlossenes Kleidungsstück kann man nicht nur nicht anziehen, es wäre auch langweilig. In der Regel ist es ja der negative space – also Reibung, Abstand, Einengung, Zwischenraum, Lücke und so weiter –, der Gewand interessant macht.
Charlotte Defants Arbeit verfolgen und Sweater Vests beauftragen kann man über ihren Instagram-Account: @charlottedefant.