Der isländische Musiker Àsgeir erzählt im Interview über sein aktuelles Album »Time on My Hands« und die Zusammenarbeit mit seinem »leichtsinnigen« Vater, über Ängste und Depressionen und warum er sich nicht mehr unwohl fühlt, wenn er seine eigene Stimme hört.
Das letzte Mal trafen wir beide uns drei Wochen vor dem allerersten Lockdown. Damals hattest du gerade angefangen, dein Album »Sátt« bzw. »Bury the Moon« zu promoten. Wie frustrierend oder schwierig war es, mit der Tatsache umzugehen, so lange daran gearbeitet zu haben und dann einfach nicht weiterzukommen?
Àsgeir: Ich muss zugeben, ich habe mich nicht wirklich darüber geärgert und war sogar ziemlich glücklich damit. Zwei Monate Tour standen vor uns und ich war irgendwie froh, nach Hause zurückkehren zu können. (lacht) Wir dachten erst, wir würden nur einige Shows verschieben und dann ein paar Monate später weitermachen, aber dann kam natürlich alles anders und wir waren für anderthalb Jahre eingesperrt. Im Nachhinein betrachtet war es schon frustrierend, dass wir nicht so viel aus dem Album herausholen konnten. Es ist leider einfach verblasst. Aber dann verging all diese Zeit und es fühlte sich seltsam an, dasselbe Album, das inzwischen drei Jahre alt war, wieder aufzugreifen und damit auf Tour zu gehen.
War es generell anders, die Pandemie in Island – mit viel Natur und wenig Menschen – zu erleben? Wie sehr hat sie deinen Alltag umgekrempelt?
Da ich ein ziemlicher Einzelgänger und eher langweilig bin, wenn ich Platten mache, ging es ziemlich unverändert weiter – ich war die meiste Zeit im Studio und in meiner Wohnung. Außer vielleicht, dass ich angefangen habe zu joggen, weil alle Fitnessstudios geschlossen waren. Früher habe ich das gehasst. Natürlich habe ich meine Freunde nicht so oft getroffen und ich habe versucht, mich von meiner Familie, vor allem von meinem Vater, der inzwischen 82 ist, fernzuhalten. Ich konnte ihn nicht so oft sehen, wie ich es wollte. Er war aber – wie ich fand – manchmal ziemlich leichtsinnig, weil er oft bei mir aufgetaucht ist.
In der Zwischenzeit hast du 2021 eine EP mit sehr intimen Songs veröffentlicht, die einen echten Storyteller–Ansatz haben. Besonders »Sunday Drive« und »Sister«.
Wir hatten vier Lieder in der Schublade – sie waren fertig, und wir wussten nicht so recht, wie wir sie veröffentlichen sollten. Es fühlte sich so an, als würden sie zusammengehören, aber nicht wirklich zum neuen Album passen. Und, ja, einige von ihnen sind persönlicher als alle anderen Songs, die ich bisher aufgenommen habe, besonders »Sunday Drive«.
Ist es eine wahre Geschichte? (Ásgeir singt in dem Stück über einen Autounfall, den er als Vierjähriger verursacht und auf wundersame Weise überlebt hat; Anm. der Red.)
Ja.
Donnerwetter!
Es war ein bisschen seltsam, darüber zu schreiben, aber die Leute, mit denen ich zusammenarbeitete, hielten es für eine gute Idee. Wir haben die Geschichte so erzählt, wie sie passiert ist, ohne Poesie. Und was den Song »Sister« angeht: Den habe ich nicht aus eigener Erfahrung geschrieben. Der bezieht sich eher darauf, dass jeder eine Person in seinem Leben hat, einen sicheren Anker, der einem ein beruhigendes Gefühl gibt. Obwohl, wenn ich darüber nachdenke: Ich habe an meine Schwester gedacht, als wir das Stück geschrieben haben – also ist es letztendlich doch sehr persönlich. (lacht)
Bei »Bury the Moon« hast du gesagt, dass die Themen und Texte der Songs ernster sind, weil du älter geworden bist. Mittlerweile bist du 30. Hatte dieser Meilenstein Auswirkungen auf dein neues Album?
Das Wichtigste ist für mich dabei vielleicht die persönliche Entwicklung. Ich glaube, ich bin etwas selbstbewusster als früher und habe mehr zu sagen. Als ich anfing, war ich 19 Jahre alt und hatte nicht wirklich etwas anzubieten. Es war fantastisch, mit meinem Vater zusammenzuarbeiten, der damals in seinen 70ern war – mit so viel Erfahrung – und der so viel zu sagen hatte. Ich arbeite immer noch mit ihm zusammen, aber ich fühle mich jetzt wohler, wenn ich alleine schreibe. Das würde ich gerne fortsetzen.
Wie würdest du den Sound deines neuen Albums »Time on My Hands« beschreiben?
Wie du weißt, mag ich es, mit meiner Musik in alle Richtungen zu reisen. Ich liebe akustische, organische Klänge, nur mit der Gitarre – und dann wieder elektronische Einflüsse. Ich weiß nicht, ob dir das aufgefallen ist, aber ich habe früher jeden Song immer mit drei Gesangs-Takes übereinander aufgenommen, damit die Vocals wirklich vielfältig klingen. Bei diesem Album haben wir viele der Songs nur einspurig aufgenommen. Für mich war das eine wirklich große Veränderung. So kann man jedes Detail in der Stimme hören, davor hatte ich früher wirklich Angst. Ich hatte das Gefühl, dass ich mich zu sehr entblöße, wenn ich meine Stimme auf diese Weise präsentiere. Aber jetzt fühle ich mich wohl, wenn ich meine eigene Stimme höre.
Die erste Single »Snowblind« wurde mit einem eher kalten, futuristischen Folk-Video versehen. Das Mädchen darin sieht Greta Thunberg sehr ähnlich. Ist es sie oder war es eine bewusste Anspielung? Das Video hat ja eine gewisse Umweltbotschaft …
Ja, das stimmt, aber es war definitiv nicht beabsichtigt. Und ich glaube nicht, dass wir das Geld hätten, sie für das Video zu gewinnen – also bin ich mir ziemlich sicher, dass sie nicht mitgespielt hat. (lacht)
Du bist dir ziemlich sicher?
Ja, es gab drei Drehtage und ich war nur an einem Tag dabei. (lacht) Aber im Ernst: Es war ein lustiger Dreh und ich bin sehr zufrieden damit. Die Handlung ist irgendwie mystisch, geheimnisvoll. Das Video hat nicht wirklich etwas mit dem Text zu tun, es fängt einfach die Stimmung, das Gefühl ein. Es ist schwer zu verstehen, was genau passiert, jeder kann seine eigene Geschichte einbringen.
Als wir uns rund um die Veröffentlichung von »In the Silence« trafen, sagtest du, du wärst am glücklichsten, wenn du das Material an die Plattenfirma schicken kannst und diese dann die Singles auswählt. Nimmst du heutzutage mehr Einfluss auf solche Entscheidungen?
Manchmal ja. Aber ich habe das Gefühl, wir hätten die gleichen drei Singles ausgewählt, vielleicht in einer anderen Reihenfolge.
Ich hätte auch »Vibrating Walls« in die Liste der Singles aufgenommen. Es ist eines dieser Lieder, das ziemlich dramatische Brüche enthält. Kannst du ein wenig über diesen Song erzählen?
Wir hatten ein Skizze des Songs sehr früh fertig und waren ziemlich zufrieden damit. So etwas ist schon mal passiert – ich bin mir nicht sicher, ob das gut oder schlecht ist. Zuerst kennt man das Lied und ist glücklich damit. Dann, nach einem Jahr, gewöhnt man sich daran und es wird langweilig. Und dann will man einfach den ganzen Song ändern. (lacht) Genau das ist mit diesem Lied passiert. Wir haben in den letzten Wochen während der Aufnahmen eine Menge verändert. Nicht die Struktur des Songs, sondern die Instrumente. Und wir haben eine Menge Drum-Takes aufgenommen. Es hat am Ende also doch ziemlich lange gedauert, bis ich das Lied fertig hatte.
Das Demo ist dann für die Special Edition …
Möglicherweise.
Ein anderer Song heißt »Giantess«. Was hat es mit dir und Riesen auf sich? Eine der Singles aus dem letzten Album hieß ja bereits »Lazy Giant«.
Ja, richtig. Siehst du, diese Verbindung habe ich gar nicht hergestellt. (lacht) Der Text stammt aus einem der Gedichtbücher meines Vaters und ist eigentlich ziemlich düster. Er beschreibt seine Depressionen, die er mit einer Riesin vergleicht, und wie er mit ihnen umging, indem er sie auf poetische Art und Weise betrachtete. Sein Gedicht hieß »Die Nacht«, aber ich hatte das Gefühl, dass »Giantess« ein starker Titel wäre.
»Waiting Room« klingt sehr persönlich, fast wie »Eventide« aus deinem letzten Album. Aber das ist dann wahrscheinlich auch etwas, das deinem Vater passiert ist?
Es ist nicht wirklich eine persönliche Geschichte, aber vielleicht eine, von der mein Vater gehört haben könnte. Sein Gedicht handelte von einem Seemann, der erfuhr, seine Frau sei sehr krank. Daraufhin kehrte er sofort an Land zurück. Da solche Geschichten häufig vorkommen, haben wir sie in die Gegenwart versetzt, um ein besseres Gefühl für die Handlung zu bekommen.
Im letzten Song, »Limitless«, geht es um übersteigerten Konsum, um die Unendlichkeit und Schönheit der Natur und darum, die Stadt hinter sich zu lassen. Entspricht das deiner Lebensphilosophie?
Ich bin sehr zufrieden mit diesem Lied. Es ist einfach entstanden, weil ich manchmal in meinem Kopf feststecke und zu viel über Dinge nachdenke, sodass sie größer werden, als sie sein sollten. Wie jeder andere auch, mache ich mir Sorgen über Sachen, die keine große Bedeutung haben, und ich werde einfach ängstlich. An einem Winterabend ging ich in so einer Stimmung in der Natur spazieren und schaute in die Sterne. Es mag ein Klischee sein, aber es gab mir das Gefühl, klein und unbedeutend zu sein, wenn man das große Ganze betrachtet. Deine Sorgen verschwinden und du fühlst dich einfach besser. Und es ist ein richtig gutes Gefühl zu erkennen, dass man nicht der Mittelpunkt der Welt ist.
Das Album »Time on My Hands« von Àsgeir ist bei One Little Independent Records erschienen.