Nicht nur im Kontext der Corona-Pandemie, sondern schon in viel kleineren Rahmen wird immer wieder das Argument laut, die Gesellschaft sei beziehungsweise werde gespalten. Carina Altreiter erklärt, was dahintersteckt.
Immer wieder wird auch medial das Bild einer gespaltenen Gesellschaft gezeichnet. Sind diese Behauptungen empirisch zu belegen?
Carina Altreiter: Dieses Bild begleitet uns auch in anderen Ländern schon länger. Es kommt stark aus der Wahlforschung und ist bei Medien beliebt. Es geht davon aus, dass es zwei Lager gibt, die sich unversöhnlich gegenüberstehen und sich nichts mehr zu sagen haben. Die Wissenschaft zeigt allerdings, dass die empirische Realität komplexer und vielfältiger ist. In unserer Forschung, die wir nach der Flüchtlingskrise zwischen 2016 und 2019 durchgeführt haben, hat sich gezeigt, dass es verschiedene Linien in der Gesellschaft gibt, die Spaltungspotenzial haben. Die Haltungen der Menschen entlang dieser Linien sind auch widersprüchlich.
Wie kann man sich das genau vorstellen?
Wir haben uns angeschaut, wie es um Solidarität im Hinblick auf den Sozialstaat steht. Dabei konnten wir drei Spaltungslinien festmachen. Die erste ist eine meritokratische Spaltungslinie, also wie Leistung in einer sozialstaatlichen Gemeinschaft definiert wird. Diese Definition ist in Österreich sehr stark über die Erwerbsarbeit bestimmt. Die zweite Spaltungslinie ist die Definition von Innen und Außen dieser Gemeinschaft – mit Blick auf Ethnizität, Nationalität, Kultur. In den letzten Jahren waren diese Debatten etwas schwächer vorhanden, aber wenn jetzt viele Geflüchtete aus der Ukraine nach Österreich kommen, könnte es einen Punkt geben, an dem diese Willkommenskultur wieder umkippt. Politische Parteien instrumentalisieren das auch. Die dritte ist die Klassenspaltungslinie, also wie sich das gesellschaftliche Oben und Unten in Lebensrealitäten einschreibt, wie Chancen und Zugänge verteilt sind, wo Menschen Ausbeutung und Unterdrückung spüren und wo sie sich selbst positionieren. Diese Linie spüren Menschen stark, politisch ist sie aber sehr tabuisiert.
Worauf ist diese Tabuisierung von Klassenunterschieden zurückzuführen?
Man spricht heute gar nicht mehr von Klassen, wenn doch, dann wirkt man retro. Das war auch in der Forschung lange Zeit so. Ab den 70er-, 80er-Jahren hat man sich von dieser Vorstellung einer polarisierten Gesellschaft verabschiedet. Mit wirtschaftlichem Aufschwung ist man irgendwann in der Politik und auch in der Wissenschaft zur Conclusio gekommen, dass man die gegenwärtigen Verhältnisse durch Klassen nicht mehr treffend beschreiben kann. Dieses Modell baut aber auf Mythen auf, die auch immer wieder in der Bildungsforschung widerlegt werden und sich doch hartnäckig halten. Das hat auch damit zu tun, dass Menschen glauben, dass sie auf ihrem Lebensweg selbst entscheiden, welche Ausbildung sie machen und welchen Weg sie gehen – aber es hat natürlich sehr viel mit ihrem Hintergrund zu tun. Außerdem gibt es ein politisches Interesse daran, Klassenverhältnisse und Vermögensungleichheiten nicht zu thematisieren. Thematisiert wird eher, was Spaltungen in der beherrschten Klasse forciert. Das ist auch ein Versäumnis der Parteien, die traditionell die Vertreterinnen der beherrschten Klassen sind.
Wie ist eine solche Spaltung definiert?
Wenn es soziale Gruppen mit einer stark politisch gefestigten Haltung gibt, in denen wenige Widersprüche und Ambivalenzen bestehen, die kaum Raum zur Meinungsänderung zulassen. Das ist oft an den Rändern der Gesellschaft so, in der sogenannten Mitte beobachtet man sehr wohl widersprüchliches Verhalten. Menschen sind nicht absolut solidarisch oder gar nicht solidarisch, das hat kürzlich die Covid-Pandemie gezeigt. Leute verändern ihre Haltung nicht wie Kleidung jeden Tag, aber die politische und soziale Umwelt wirkt natürlich darauf ein.
Also trennen diese Spaltungen nicht wie teilweise dargestellt die Gesellschaft in zwei gleich große Hälften?
Von Spaltung sollte man nur sprechen, wenn es zu Situationen kommt, in denen die Ausgrenzung so stark ist, dass der Zugang zum anderen Teil der Gesellschaft nicht mehr gegeben ist. Damit sollte man aufpassen. Medial wird dieser Begriff der Spaltung vorschnell verwendet. Er verhindert dadurch auch zu erkennen, wo es Möglichkeiten für Berührungspunkte und Brückenschläge gibt.
Wie fluide sind die Wertevorstellungen der österreichischen Gesellschaft?
Wir haben uns angeschaut, welche Milieus welche Haltungen haben. Es gibt bestimmte Milieus, in denen Erwerbsarbeit etwas ganz Wichtiges ist. Nicht nur, weil man existenziell davon abhängig ist, arbeiten zu gehen, sondern weil das auch ganz eng mit Anerkennung verbunden ist. Diese Personen können es als Provokation erleben, wenn jemand nicht arbeitet – aus welchen Gründen auch immer. Sie fühlen sich dann gekränkt, weil sie sich ja abmühen und sich andere dieser Mühe entziehen. Wenn man nun die Gültigkeit von Erwerbsarbeit als Beitrag zur Solidargemeinschaft aufheben würde, hätten diese Personen große Schwierigkeiten da mitzugehen.
Wie können die bestehenden Spaltungslinien unserer Gesellschaft überwunden werden?
Gut funktioniert es, bestehende Definitionen – etwa von Beiträgen zur Solidargemeinschaft – nicht abzubauen, sondern zu erweitern. Denn diese Beiträge können ja vielfältig sein und beschränken sich nicht auf Erwerbsarbeit und Steuerzahlen. Politisches Engagement, Kinderbetreuung, Nachbarschaftshilfe – das könnten wir als Beitrag zur Gemeinschaft definieren. So könnten Fokussierungen entkräftet werden.
In puncto Sozialleistung könnte auch das Bedarfsprinzip gestärkt werden, sprich: Ich krieg was, wenn ich was brauch. Egal zu welchem Beitrag ich in der Lage war oder bin. Und es gibt den Vorschlag, in Diskussionen das in den Vordergrund zu rücken, was uns alle verbindet. Was ist in den Gesellschaften dieser Welt überall gleich? Außerdem sollten wir wieder stärker auf Klassenunterschiede hinweisen und damit vor allem politisch konstruierten ethnischen Spaltungslinien ihre Richtigkeit nehmen.
Carina Altreiter ist derzeit Postdoc und Projektleiterin in an der Wirtschaftsuniversität Wien im Projekt »Spatial Competition and Economic Policies (SPACE): Discourses, Institutions and Everyday Practices« sowie Co-Autorin der Studie »Umkämpfte Solidaritäten«.
Anlässlich unseres 25-Jahr-Jubiläums haben wir uns in The Gap 192 »25 Fragen zur Gegenwart« gestellt. Dieser Beitrag beantwortet eine davon.