Diedrich Diederichsen hat das wichtigste Buch über Pop-Musik geschrieben, das es auf Deutsch gibt. Weil man das sowieso lesen muss, haben wir mit ihm eher über die Gegenwart und Zukunft – nicht nur von Pop-Musik – geredet.
Für einen lebenden Theoretiker hat Diedrich Diederichsen einen sehr langen Wikipedia-Eintrag. Das liegt wohl daran, dass er fürs Schreiben über Pop lange der wichtigste Kopf im deutschen Sprachraum war – gern gehasst, kritiklos verehrt, oft schwer verständlich, aber immer geistreich. Sei es als Chefredakteur von Spex, als Autor von »Sexbeat«, als Feuilletonist im Tagesspiegel und natürlich weit darüber hinaus. Immer öfter interessierte ihn Pop-Musik aber nicht mehr so, 2006 wurde er Professor an der Wiener Akademie der bildenden Künste, schrieb vor allem über Kunst, manchmal Serien, Kulturtheorie oder kuratierte eine Ausstellung über Ökologie. Mit »Über Pop-Musik« bringt er seine Beschäftigung mit Pop-Musik zu einem umfassenden und vorläufigen Ende.
Pop-Musik folgt hier mehrere Modellen, hat aber kein Ende, oder gleich mehrere, die langsam von neuen kulturellen Modellen abgelöst werden. Man kann also sagen, ja, wer soll da noch jemals etwas draufsetzen? Gut, man versteht ihn schwer. Das Buch kann noch in eine einfachere Tonlage gebracht und anschaulich gemacht werden. Aber wenn man ihn einmal versteht, dann stimmt hier alles. Und Pop-Musik ist schließlich kein Kindergeburtstag. Bitte also einmal ordentlich bücken. Never mind the bollocks, here’s Poptheorie.
Stefan Niederwieser: Es gibt sonst keine Ästhetik von Pop im deutschen Sprachraum.
Diedrich Diederichsen: Das ist schon richtig. Aber ich sage auch an manchen Stellen, warum es eine Ästhetik der Pop-Musik alleine nicht ist. Es ist ein Versuch, den Gegenstand Pop-Musik so neu zu fassen, dass man etwas mit ihm anfangen kann, dass man sich mit ihm institutionell beschäftigen kann.
Vermeidet das Buch absichtlich eine Systematik oder hat es eine eigene, versteckte Systematik?
Die Systematik ist, dass es vier oder fünf Grundideen aus verschiedenen heuristischen Szenarien heranzieht – davon ist eine die Welt der Zeichentheorien, die zweite ist die Geschichtsphilosophie, die dritte ist Kunsttheorie und Ästhetik, das vierte wäre Sozialwissenschaften und Gesellschaftswissenschaften sowie als fünfte Soziologie und das Szenario von Rezipienten und Produzenten. Eine Metasystematik, die zeigt, wie diese fünf Perspektiven zueinander stehen, in welchem Verhältnis sie zueinander stehen, würde sehr viel mehr betreffen. Das wären dann ja Thesen über das System der Geisteswissenschaften heute – das hab ich mir geschenkt.
Diese fünf Ansätze scheinen sich nicht immer miteinander zu vertragen, sie bilden unterschiedliche Aspekte von Pop-Musik ab, die nicht gleich wichtig sind.
Sie sind nicht gleich wichtig. Im zweiten Teil wird vieles durchgespielt, was danach verworfen oder zumindest relativiert wird. Natürlich haben sie unterschiedliche Universalisierbarkeitspotenziale. Sie sind nicht fünf gleichwertige Geschwister. Aber dass es sie so gibt, wie es sie gibt, hat damit zu tun, dass sie Vorläufer haben, eine Geschichte der Investments in diese Perspektiven. Es gab schon immer Leute, die glaubten, man muss Pop-Musik als Kunst behandeln oder aber als ergebnisbestimmte, historische Entwicklung betrachten. Es gab immer schon welche, die Pop-Musik-Semiotik wollten – deshalb gibt es sie da auch drin, aber es ist nicht so, dass ich sagen würde, sie hätten den gleichen Rang. Und es ist nicht ganz zufällig so, dass am Schluss die Gesellschaft steht.
Das ist der Ansatz mit der größten Kritik – der sagt, viele dieser Potenziale von Pop-Musik sind so nicht einlösbar?
Einige Leute, die das Buch gelesen haben, meinten, sie seien überrascht, wie positiv die Pop-Musik darin vorkommt. Das fand ich nicht so. Man kann auch sagen, dass dieses Kritische in dem Teil über die gesellschaftliche Bedeutung von Pop-Musik mit den Ansprüchen an diese zu tun hat. Die Ansprüche sind wohl die, die als Ideen am meisten Kritik verdienen. Kritik der Ideen über Pop-Musik statt Kritik an der Pop-Musik selbst, das kommt in allen Teilen vor. Sie werden dabei als etwas beschrieben, das seine Zeit gehabt hat. Ich denke auch, dass zur Frage, wie ich das bewerte, da nicht so viel Neues drin steht. Die Bewertung ist nicht das Hauptanliegen des Buches.
Michael Kirchdorfer: Das Buch bewegt sich formal zwischen wissenschaftlicher Arbeit und Subjektivismus. Als was siehst du es?
Diese Frage, ist es ein wissenschaftliches Buch oder ein essayistisches, stellt sich für mich weniger als bei anderen Projekten, wo Vorentscheidungen nötig waren. Hier war inhaltlich so viel auf dem Tisch, dass sich die Schreibweisen nachzurichten hatten. Mal ist es mehr das eine, mal das andere. Das hängt mit der Frage zusammen, auf welcher Ebene man die interessantesten Gesprächspartner findet. Es ist manchmal so, dass eine flapsige Bemerkung in einer Stadtzeitung die relevantere Provokation ist als 500 Seiten Systemtheorie – und manchmal sind die 500 Seiten Systemtheorie die relevantere Proklamation. Und manchmal kann man sich nicht entscheiden – man kann nicht einen der beiden Diskurse benutzen, um Antworten zu geben oder nur in dieser Richtung zu diskutieren. Da kann letztendlich keiner die Hoheit davontragen.
Es gibt keine Unterscheidung zwischen dem Besonderen und dem Allgemeinen – mit dem Stadtzeitungstext meine ich nicht das Besondere und mit dem Wissenschaftlichen nicht das Allgemeine – das sind zwei Seiten – Systemtheorie und flapsige Bemerkung sind zwei gleichberechtigte Redeweisen. Beide Diskursformen haben etwas Berechtigtes. Insofern muss ich mich auf beide einlassen.
Stefan Niederwieser: Ist das eine Arbeit, die versucht, verschiedene Jargons und Diskurse aneinander zu stellen?
Ja. Es gab niemals das Vorhaben, Jargon zu vermeiden, aber ich hab kein Problem damit, dass es so sein soll, ich hab darüber noch gar nicht nachgedacht. Da die einzelnen Teile ja aus sehr unterschiedlichen Umständen entstanden sind, hätte ich eigentlich gedacht, dass sie sich vom Ton her unterscheiden, obwohl ich beim Bearbeiten schon versucht habe, darauf hinzuwirken, dass diese Unterschiede kleiner werden. Dass der Autor nicht im Jargon sitzt, dazu kann ich wenig sagen. Wenn ich das Buch lese, erkenne ich mich schon wieder.
Ein Versuch, dieses Buch im bisherigen Pop-Diskurs dingfest zu machen, fällt schwer, weil es zusammenführt und trotzdem keine Synthese aus allem ist.
Es ist was Neues. Es ist eine vorbereitete, neue Einschätzung des Pop-Musik-Phänomens. Und weil ich der Meinung bin, dass das eigentlich das Entscheidende ist – die Neubeschreibung dieser Pop-Musikphase des 20. Jahrhunderts und ihre Ausläufer in die Gegenwart hinein –, ist alles andere heruntergefahren. Im Mittelpunkt steht das Anliegen, dieses Land jetzt einmal neu zu vermessen, zu kartografieren. Das ist der Hauptpunkt – und nicht die Frage: Hat es eine große Zukunft, geht es den Bach runter, gefällt es mir oder gefällt es mir nicht?