»Es geht mehr um die Reise als um das Ziel« – Alice Rohrwacher im Interview zu »Glücklich wie Lazzaro«

Alice Rohrwachers neuer Film »Glücklich wie Lazzaro« ist düstere Klassenstudie und träumerisches Märchen gleichermaßen. The Gap traf die aus Italien stammende Filmemacherin zum Gespräch.

© Filmladen Filmverleih

Mit »Glücklich wie Lazzaro«, der bei den Filmfestspielen von Cannes seine Premiere feierte und als Eröffnungsfilm bei der Viennale lief, inszenierte die Regisseurin und Drehbuchautorin Alice Rohrwacher ein zeitloses Werk, das auf den Spuren des italienischen Neorealismus wandelt. Im Interview erzählt die Filmemacherin von neuen Inspirationen in New York City und einem alten Vorbild aus Italien, von einem neu entdeckten Jungschauspieler und einer altbewährten Leidenschaft für 16-mm-Film.

Wie sind Sie auf die Idee zu »Glücklich wie Lazzaro« gekommen?

Es hat alles in New York begonnen, denn dort habe ich von einem Filmfestival eine Förderung erhalten, um den Stoff zu entwickeln. Ich war also in New York und so weit weg von allen Leuten, die ich kenne. Ich lebe ja auch etwas isoliert am Land, wo die Erinnerung an diese feudale Zeit noch sehr stark und sehr lebendig ist. Ich kann mich erinnern, dass ich durch New York spaziert bin und ich nach und nach begonnen habe, mir diese Figur vorzustellen: eine Figur, die durch die Stadt geht, so als würde die Vergangenheit durch die Stadt gehen. Mit den Augen der Vergangenheit sieht sie die Stadt und unsere Zeit – ohne darüber zu urteilen. Dann ist mir die Geschichte von dieser Marquise eingefallen, die es ja wirklich gegeben hat, die viele Jahre – obwohl dieses System abgeschafft worden war – ihre Bauern an diesem Ort als Leibeigene gefangen gehalten hat. Das war wie eine Inszenierung, wie ein Theaterstück. So ist dann diese Geschichte entstanden.

Da Sie ja gerade angesprochen haben, dass der Inhalt mitunter auf realen Tatsachen beruht: Gab es für Sie filmische Vorbilder?

Giotto di Bondone. Er war nicht wirklich ein Filmemacher, aber fast. Mir fallen dazu seine Freskenzyklen ein, in denen Giotto immer eine Landschaft darstellte, die ihm sehr nahe war, die er sehr gut kannte, die aber dennoch nicht naturalistisch dargestellt wurde, sondern sehr symbolträchtig war – wie etwa bei den Fresken, die Franz von Assisi darstellen. Man sagt aber, dass sie auf echten Menschen basierten, dass er also die Gesichter echter Bauern malte, sie aber zu Archetypen hat werden lassen. Das hat mich auch interessiert: Ich wollte eine Parabel erzählen, allerdings keine religiöse, sondern eine laizistische über die Geschichte von Archetypen.

Wie entwickelte sich überhaupt die Symbolik in Ihrem Film?

Wir verwenden den Begriff Symbol. Aber Symbole kommen immer von unten, sie tauchen auf. Sie sind nicht organisch und entstehen nicht von oben herab. Man kann das also nicht planen, sondern man stößt immer auf sie, sie überragen und überraschen. Wir wollten mit dieser Geschichte die großen und massiven Umwälzungen der letzten 50 Jahre erzählen, die es in Italien und in Europa gegeben hat. Wir wollten zeigen, dass Menschen fast wie Vögel im Käfig herumflattern und gegen diese Wand stoßen. Aber da die Geschichte ja sehr düster ist, wollten wir das ironisch machen und so einfach wie möglich. Wie bei einem Kinderspiel. Deswegen auch dieser Bezug zum Märchen.

Hatten Sie ein gewisses Publikum vor Augen?

Im Film gibt es ja keinen sozialen Kampf, da niemand kämpft. Es ist die Geschichte von denen, die von allen Kämpfen ausgeschlossen sind – vom Subproletariat eben. Sie werden befreit, sie befreien sich nicht selbst. Es gibt für sie keine Form der Selbsterkenntnis. Abgesehen davon glaube ich aber nicht an diesen abstrakten Publikumsbegriff, da ich diese Abgrenzung von Zielgruppen nicht mag. Ich kenne das von ProduzentInnen, die sagen, dass manche Stoffe dem Publikum nicht zuzutrauen seien. Das empfinde ich als paternalistisch und herabschauend. Deswegen glaube ich nicht an diese abstrakte Idee. Bei meinen Filmen gibt es das nicht: Ich möchte Filme machen, die meinen FreundInnen und mir gefallen – und wenn sie uns gefallen, dann werden sie auch anderen gefallen. Meine Arbeit ist nie auf ein Produkt ausgerichtet, sondern auf den Prozess. Das ist auch eine Lebenshaltung.

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