Wie denkt, inszeniert, verhandelt und thematisiert das Kino den Rausch? Und welche Rolle nehmen ekstatische Ausnahmezustände in einer modernen Gesellschaft ein? Die Diagonale zeigt dieses Jahr in einem seiner historischen Specials 22 Filme unter dem Schirmbegriff »Rausch« – von der »Club 2«-Montage bis »Vollgas«. Das ambivalente Faszinosum beschäftigt aber nicht nur Kunstinteressierte, sondern auch die Wissenschaft.
»Dem österreichischen Film – vielleicht Österreich per se – ist ein Hang zum Rausch nicht abzusprechen. In einer Zeit, in der die berauschte Flucht vor den Zumutungen des Alltags samt ihren Höhen, Tiefen und Abgründen beinahe gänzlich aus der Öffentlichkeit verdrängt wurde, lohnt der Blick ins narkotische Kino gleich mehrfach. Pandemiebedingt wird der Rausch zur politischen Bühne, der persönliche wie gesellschaftliche Umgang damit zur Grundsatzentscheidung.« – Die Ankündigung des »Rausch«-Themenspecials der diesjährigen Diagonale liest sich wie eine nüchterne Zustandsbeschreibung, während sich der Inhalt genau ins Gegenteil erstreckt.
Rausch ist Ausflucht aus dem Alltag, Rausch ist Selbstfindung und Identität, aber Rausch ist auch mit Vorsicht zu genießen. Im österreichischen Sprachgebrauch ist dabei meist vom substanzgebundenen Alkoholrausch die Rede – der nach wie vor am häufigsten gewählten, weil gesellschaftlich akzeptiertesten Methode, sein Bewusstsein zu erweitern oder in Extremfällen außer Kraft zu setzen: Rund zwölf Liter Reinalkohol trinken Österreicher*innen jährlich und belegen damit Platz 17 weltweit. Und was im menschlichen Leben fasziniert, abstößt oder anderweitig polarisiert, findet nicht selten einen direkten Weg in die Kunst. Wie die Programmierung der Diagonale lässt sich dieser Text deshalb mit einer Vielzahl an Vorstellungen von Rausch im Hinterkopf lesen und verstehen. Er fokussiert dabei aber auf ebenjenen durch das Trinken indizierten und nähert sich dem Thema über drei Expert*innengespräche an, die sich an verschiedenen Aspekten des Rausches und seinen Folgen abarbeiten.
Yvonne Niekrenz veröffentlichte 2011 unter dem Titel »Rauschhafte Vergemeinschaftungen« eine knapp 300 Seiten starke Studie zum rheinischen Straßenkarneval. Ihre These: Moderne Gesellschaften brauchen Rausch als Exzess und kollektives Erlebnis, um überhaupt bestehen zu können. Die oft sehr rigide Ordnung der Dinge sei nur durch möglichst genau definierte Ausbrüche überhaupt als solche stabil, was Niekrenz mittels eines umfassend ambivalenten Charakters des Rausches beschreibt: »Rausch funktioniert nur dann, wenn es eine Alltäglichkeit gibt, die der Rausch außer Kraft setzen kann. Man sucht anders als im vereinzelten Normalzustand die Gesellschaft und Interaktion. Das macht etwas ansonsten sehr Abstraktes greifbar und verleiht der Gesellschaft sozusagen ein Gesicht.«
Jede moderne Kultur kenne das, so Niekrenz. Der Ausbruch in eine andere Welt sorge für regionale Identität, helfe Druck abzubauen und Psychohygiene zu erfahren. Diese integrative Kraft schaffe andererseits auch Abgrenzungspotenzial zu anderen Gruppen. Nicht nur in den ländlichen Regionen Österreichs fällt es etwa feuerwehrfestabstinenten Bürgermeister*innen schwerer, Nähe zu den Bürger*innen aufzubauen, auch Einzelpersonen wird oft argwöhnisch begegnet, verweigern sie das Mittrinken in sozialen Situationen.
Ein schmaler Grat
»Ein Rausch bietet die Möglichkeit, mich und meinen Körper und das Gefühl von Raum und Zeit anders wahrzunehmen. Das funktioniert nicht nur durch Substanzkonsum, sondern beispielsweise auch durch Atemtechniken. Das ist eine Chance, eine Facette des Ichs leben zu können, die inspiriert, bereichert«, erklärt Niekrenz im Zusammenhang mit dem Satz, dass sehr viele kulturelle Werke der Menschheitsgeschichte im Rausch entstanden sind.
Eines dieser Werke ist unumstritten der Kurzfilm »Rauchen und Saufen« aus dem Jahre 1997, den die Diagonale zeigen wird und für den der Südsteirer Albert Sackl verantwortlich zeichnet. Heute, knapp 25 Jahre später, sitzt er an seinem Wohnzimmertisch, der schon Schauplatz für rauschhafte Pokerrunden gewesen sei. Im Hintergrund ein Gemälde des befreundeten Künstlers David Voggenhuber, das diese Szenerie darstellt.
Soziale Notwendigkeit
Sackl spricht in Zusammenhang mit seinem Kurzfilm vor allem von dem, was Niekrenz als negativen Anspruch des Rauschs bezeichnet. Dieser steht der Leistungsgesellschaft entgegen und hebt die potenziell (selbst-)zerstörerische Wirkung gewisser Substanzen hervor. Der 10-minütige Zeitraffer »Rauchen und Saufen« zeigt den jungen Albert Sackl auf einem Fauteuil sitzend, wie er in vier langen Stunden ganze 50 Zigaretten raucht (zu dem damaligen Zeitpunkt seine doppelte Tagesration) und anschließend Wein aus der eigenen Familienproduktion trinkt, bis er erbrechen muss. Nach kurzer Ohnmacht am Set lallt er einen unverständlichen Lagebericht in die Kamera.
Sackl war mit seiner Leistung unzufrieden: »Der Film ist für mich aus heutiger Sicht durch seine strenge Formgebung des absichtlich ausufernd angelegten Konsums auch eine Art früher Versuch des Einhegens, des Findens der feinen Demarkationslinie zwischen einem das Leben feiernden Rausch und der zerstörungsbringenden Sucht«, erklärt der Autor, Regisseur und Protagonist des Kurzfilms, dessen Zweck er als »amtliche Teilvernichtung« beschreibt. In Randbemerkungen erörtert Sackl außerdem, dass der Rausch immer stark mit seiner Männlichkeit in Beziehung stand. Genau erklären kann er dieses Wechselspiel zwar nicht, dass die meisten kulturellen Rauschdarstellungen männliche Protagonisten verwenden, fällt ihm allerdings auf.
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