Gefahr oder Kitt der Gesellschaft? – Aspekte des Rauschs

Wie denkt, inszeniert, verhandelt und thematisiert das Kino den Rausch? Und welche Rolle nehmen ekstatische Ausnahmezustände in einer modernen Gesellschaft ein? Die Diagonale zeigt dieses Jahr in einem seiner historischen Specials 22 Filme unter dem Schirmbegriff »Rausch« – von der »Club 2«-Montage bis »Vollgas«. Das ambivalente Faszinosum beschäftigt aber nicht nur Kunstinteressierte, sondern auch die Wissenschaft.

© Sixpackfilm — Nach 50 Zigaretten und Wein bis zum Erbrechen erlebt Albert Sackl in »Rauchen und Saufen« (1997) einen selbstzerstörerischen Rauschaspekt.

»Dem österreichischen Film – vielleicht Österreich per se – ist ein Hang zum Rausch nicht abzu­sprechen. In einer Zeit, in der die berauschte Flucht vor den Zumutungen des Alltags samt ihren Höhen, Tiefen und Abgründen beinahe gänzlich aus der Öffent­lichkeit verdrängt wurde, lohnt der Blick ins narkotische Kino gleich mehrfach. Pandemie­bedingt wird der Rausch zur politischen Bühne, der persönliche wie gesell­schaftliche Umgang damit zur Grund­satz­ent­scheidung.« – Die Ankündigung des »Rausch«-Themen­specials der diesjährigen Diagonale liest sich wie eine nüchterne Zustandsbeschreibung, während sich der Inhalt genau ins Gegen­teil erstreckt.

Rausch ist Ausflucht aus dem Alltag, Rausch ist Selbst­findung und Identität, aber Rausch ist auch mit Vorsicht zu genießen. Im öster­reichischen Sprach­gebrauch ist dabei meist vom substanz­gebundenen Alkohol­rausch die Rede – der nach wie vor am häufigsten gewählten, weil gesell­schaftlich akzeptier­testen Methode, sein Bewusst­sein zu erweitern oder in Extrem­fällen außer Kraft zu setzen: Rund zwölf Liter Rein­­alkohol trinken Öster­reicher*innen jährlich und belegen damit Platz 17 weltweit. Und was im mensch­lichen Leben fasziniert, abstößt oder ander­weitig polarisiert, findet nicht selten einen direkten Weg in die Kunst. Wie die Program­mierung der Diagonale lässt sich dieser Text deshalb mit einer Vielzahl an Vorstel­lungen von Rausch im Hinter­kopf lesen und verstehen. Er fokussiert dabei aber auf eben­jenen durch das Trinken indizierten und nähert sich dem Thema über drei Expert*innen­gespräche an, die sich an verschiedenen Aspekten des Rausches und seinen Folgen abarbeiten.

Die ORF-Sendung »Club 2« war auch für Rausch­darstellungen bekannt. (Foto: ORF Archiv)

Yvonne Niekrenz veröffentlichte 2011 unter dem Titel »Rausch­hafte Vergemein­schaf­tungen« eine knapp 300 Seiten starke Studie zum rheinischen Straßen­karneval. Ihre These: Moderne Gesell­schaften brauchen Rausch als Exzess und kollektives Erlebnis, um überhaupt bestehen zu können. Die oft sehr rigide Ordnung der Dinge sei nur durch möglichst genau definierte Aus­brüche über­haupt als solche stabil, was Niekrenz mittels eines umfassend ambivalenten Charakters des Rausches beschreibt: »Rausch funktioniert nur dann, wenn es eine Alltäg­lichkeit gibt, die der Rausch außer Kraft setzen kann. Man sucht anders als im verein­zelten Normal­zustand die Gesell­schaft und Inter­aktion. Das macht etwas ansonsten sehr Abstraktes greifbar und verleiht der Gesell­schaft sozu­sagen ein Gesicht.«

Jede moderne Kultur kenne das, so Niekrenz. Der Ausbruch in eine andere Welt sorge für regionale Identität, helfe Druck abzubauen und Psycho­hygiene zu erfahren. Diese integrative Kraft schaffe anderer­seits auch Abgrenzungs­potenzial zu anderen Gruppen. Nicht nur in den länd­lichen Regionen Österreichs fällt es etwa feuer­wehrfest­abstinenten Bürger­meister*innen schwerer, Nähe zu den Bürger*innen aufzubauen, auch Einzel­personen wird oft arg­wöhnisch begegnet, verweigern sie das Mittrinken in sozialen Situationen.

Ein schmaler Grat

»Ein Rausch bietet die Möglichkeit, mich und meinen Körper und das Gefühl von Raum und Zeit anders wahrzu­nehmen. Das funktioniert nicht nur durch Substanz­konsum, sondern beispiels­weise auch durch Atem­techniken. Das ist eine Chance, eine Facette des Ichs leben zu können, die inspiriert, bereichert«, erklärt Niekrenz im Zusammen­hang mit dem Satz, dass sehr viele kulturelle Werke der Menschheits­geschichte im Rausch entstanden sind.

Eines dieser Werke ist unumstritten der Kurzfilm »Rauchen und Saufen« aus dem Jahre 1997, den die Diagonale zeigen wird und für den der Südsteirer Albert Sackl verant­wortlich zeichnet. Heute, knapp 25 Jahre später, sitzt er an seinem Wohn­zimmer­tisch, der schon Schau­platz für rauschhafte Poker­runden gewesen sei. Im Hinter­grund ein Gemälde des befreundeten Künstlers David Voggen­huber, das diese Szenerie darstellt.

Soziale Notwendigkeit

Sackl spricht in Zusammen­hang mit seinem Kurzfilm vor allem von dem, was Niekrenz als negativen Anspruch des Rauschs bezeichnet. Dieser steht der Leistungs­gesellschaft entgegen und hebt die potenziell (selbst-)zerstörerische Wirkung gewisser Substanzen hervor. Der 10-minütige Zeitraffer »Rauchen und Saufen« zeigt den jungen Albert Sackl auf einem Fauteuil sitzend, wie er in vier langen Stunden ganze 50 Zigaretten raucht (zu dem damaligen Zeitpunkt seine doppelte Tages­ration) und anschließend Wein aus der eigenen Familien­produktion trinkt, bis er erbrechen muss. Nach kurzer Ohn­macht am Set lallt er einen unver­ständlichen Lage­bericht in die Kamera.

Sackl war mit seiner Leistung unzufrieden: »Der Film ist für mich aus heutiger Sicht durch seine strenge Form­gebung des absichtlich ausufernd angelegten Konsums auch eine Art früher Versuch des Einhegens, des Findens der feinen Demarkations­­linie zwischen einem das Leben feiernden Rausch und der zerstörungs­bringenden Sucht«, erklärt der Autor, Regisseur und Protagonist des Kurz­films, dessen Zweck er als »amtliche Teil­ver­nichtung« beschreibt. In Rand­bemerkungen erörtert Sackl außerdem, dass der Rausch immer stark mit seiner Männ­lich­keit in Beziehung stand. Genau erklären kann er dieses Wechsel­spiel zwar nicht, dass die meisten kulturellen Rausch­darstellungen männ­liche Protago­nisten verwenden, fällt ihm allerdings auf.

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