Besuch beim Candyman

Im "Candylab" experimentiert Thomas Feuerstein mit Körper, Geist und Zucker: Menschliche Gehirnzellen ernähren sich von philosophischen Schriften, Sprache wird zu Hochprozentigem. Bitterer Ernst oder süße Gaukelei?

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Pancreas (Bauspeicheldrüse) ist einerseits eine exokrine Drüse, das bedeutet, ein Organ, das Stoffe – in diesem Fall Verdauungsenzyme – nach außen abgibt. Sie ist in weiterer Funktion für die Regulation des Blutzuckerspiegels verantwortlich und produziert unter anderem das Hormon Insulin. Diabetes, bekannt als Zuckerkrankheit, ist ein Resultat einer Störung dieses Organs.

Alles Fleisch – und Zucker

"Pancreas" (griech: "alles Fleisch") ist auch der Titel des Herzstücks von Thomas Feuersteins aktueller Ausstellung in der Kunsthalle Krems. Im "Candylab" steht diese Skulptur, die gleichzeitig Versuchsanordnung und Laboratorium ist. Feuerstein füttert die Maschine mit spezieller Nahrung: den Seiten eines Buches, und zwar des immer gleichen Werks: Hegels "Phänomenologie des Geistes". Die als Zersetzer des Papiers agierenden Bakterien haben einiges zu knabbern. Sie wandeln die philosophische Schrift über Wahrnehmung, Bewusstsein, Vernunft und Universalwissen zu Glukose, sprich Zucker, der lebenswichtigen Essenz und zugleich Geißel unserer Zivilisation. Für Feuerstein ist es der "universelle Brennstoff des Lebens". Und tatsächlich wird die Glukose in einem gläsernen Glassturz von menschlichen Gehirnzellen freudig erwartet – sie wachsen und gedeihen je nach der Zufuhr des aus der Niederschrift der geistigen Ergüsse gewonnenen Nektars.

Rund um die Apparatur finden sich Zeichnungen und Malereien – ebenfalls aus dem Werkstoff Zucker gefertigt. "Mary", ein phallischer Zuckerberg auf einem Büchersockel, und weitere Plastiken in einem Vitrinenschrank namens "Speis" bestehen ebenso aus der süßen Materie. Ihnen liegt dann aber doch eine umfangreichere Auswahl an Literaturgeschichte zugrunde: Sie speisen sich unter anderem aus Seiten von Werken von Mary Shelley, Simone de Beauvoir oder Joris Karl Huysmans.

Zerstörerisches Potenzial

Zucker als Elixier des Lebens? Zucker als Grundlage von Wissen(schaft)? Mitnichten. Aber vielleicht ist es gerade dieser Zwiespalt von Gut und Böse in einem Stoff vereint, den Feuerstein so interessant findet. Zucker versüßt unser Leben und erzeugt Energie, ohne die es kein Fortkommen gäbe. Doch Zucker bedeutet auch – speziell in unserer westlichen Kultur – Abhängigkeit und Übersättigung. Das, was die Menschheit krank macht. Diabetes ist eine Zivilisationskrankheit, die in den letzten Jahren rasant zugenommen hat. Der Großteil des amerikanischen Maisanbaus wird beispielsweise für die Produktion von Glukosesirup (Corn Sirup) verarbeitet. Es gibt kaum ein Lebensmittel, das diesen Stoff, der im Vergleich zu Zucker wesentlich kostengünstiger herzustellen ist, nicht enthält. Nicht ohne Grund ist fast jeder dritte Amerikaner fettleibig, Tendenz auch in Europa steigend. Kaum jemand hinterfragt oder vermutet, welche Mengen an Zucker jeden Tag durch die Nahrung, die vordergründig nichts mit Süßspeisen zu tun hat, aufgenommen werden.


Wie recht hat Thomas Feuerstein: Zucker ist die Grundsubstanz des Lebens – mit gefährlichen Nebenwirkungen. Doch damit nicht genug. Im nächsten Stock des Ausstellungsgebäudes begegnet man einer weiteren für den Menschen wesentlichen Substanz, deren Grundlage ebenfalls Zucker ist: dem "Genius In A Bottle" Ethanol. Feuerwasser, Sp(i)rit, Booze – das Elixier, das das menschliche Gehirn beflügelt und einlullt. Thomas Feuerstein lädt in seine Spezialbar, die aus bunt illuminierten Flaschen besteht: In der Installation "Poem" wird feuchte Luft, die beim Sprechen aus den Mündern der Besucher entweicht, durch eine Reihe von biochemischen Prozessen gejagt. Am Ende wird sie als extrahierter Alkohol abgefüllt. Aus Worten gewonnener Weingeist, der gesprächig macht.

Realität und alchemistische Mythen

Dem Künstler geht es offensichtlich um den transformatorischen Aspekt: Wort wird Fleisch, Wort wird Geist. Die Wandlung von Literatur bzw. Sprache zum alles antreibenden Brennstoff Zucker ist eine verheißungsvolle und eventuell auch etwas elitäre Metapher. Schließlich werden die Maschinen nicht mit dem Heute-Magazin gefüttert, sondern mit Wälzern aus Philosophie und Literaturgeschichte. Die Realität sieht aber anders aus, denn die "Phänomenologie des Geistes" wird im Alltag nicht besonders geschult. Hier erkennt man Feuerstein als den traditionellen Alchimisten, als Verfechter der magischen Mythen, der die Naturgesetze mit Philosophie und moderner Technik paart, um ein Laboratorium vorzuführen, das man auch als romantische Spielerei oder Horrorkabinett sehen kann. Verselbstständigen sich seine wahnwitzigen Versuchsanordnungen, könnte die aus Zucker gespeiste Energie ein Supergehirn erzeugen.

Was, wenn es sich befreit? Was, wenn sich jemand Cocktails aus Feuersteins Spezialbar mixt? Führt dann die ultimative Erkenntnis zum Untergang, die Hybris zum Fall, wie man es aus dutzenden Legenden kennt? "Flesh For Fantasy II" heißt eine der Polypropylenskulpturen, die einen Affenschädel mit spitzen Reißzähnen in einer Wolke aus molekular anmutenden Kugeln zeigt. Gib dem Affen Zucker – wir sind doch nur triebgesteuerte Säugetiere, die sich durch die Entwicklung des Geistes vom Animalischen vermeintlich abheben.

Lassen sich Kunst und Wissenschaft nun also vereinen? Ist die Kunst das Mittel, das der Wissenschaft ermöglicht, das Unglaubliche darzustellen? In Thomas Feuersteins »Candylab« trifft das jedenfalls zu. Dennoch, das Kunstwerk ist nicht konkret erfassbar. Die Installationen zeigen Vorgänge, die ein Ergebnis zu liefern vorgeben. Fragil und ephemer sind die Arbeiten, undurchsichtig die Tatsachen.

Der Trickster macht’s möglich

Thomas Feuersteins künstlerische Karriere entwickelte sich aus den Studien der Kunstgeschichte und Philosophie. Er ist Wissenschaftler, der Kunst macht, und sich selbst dabei mit dem Begriff "Trickster" in Verbindung bringt. Ein Trickster ist ein Schelm, ein Narr und ein Gaukler, Magier, Betrüger. Ein gerissener Kerl, der mit Sein und Schein spielt, die Menschen in seinen Bann zieht, sie verleitet, verführt und nicht zuletzt verschaukelt. Ein diabolischer Charakter, der Realität und Fiktion vermischt. Wie viel von den gezeigten Experimenten ist haltbar? Haben wir es wirklich mit echten Gehirnzellen zu tun, die ihr literarisches Gourmetmenu verspeisen? Finden sich unsere Worte tatsächlich in der geheimnisvollen Laborbar wieder? Egal, wie es um den Wahrheitsgehalt bestellt ist, die Hintergründe wurden akribisch recherchiert. Den Rest besorgen die Kraft der Imagination und unsere Begeisterungsfähigkeit.

»Candylab« von Thomas Feuerstein ist ab 18. November 2012 in der Kunsthalle Krems zu sehen.

Bild(er) © Courtesy Galerie Elisabeth & Klaus Thoman, Innsbruck/Wien © VBK, Wien, 2012
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