Class of 1945

Objektiv gesehen ist das Dritte Reich so passé wie nie zuvor. Subjektiv scheint mir die Nazi-Zeit plötzlich näher denn je. Ein Paradoxon – weniger politisch als vielmehr persönlich.

Aus rechtlichen Gründen werden Artikel aus unserem Archiv zum Teil ohne Bilder angezeigt.

Nichts hat etwas daran geändert. Weder Quentin Tarantinos »Inglourious Basterds«, noch »Hitler responds to the iPad« – jene satirische Neuuntertitelung einer Szene aus »Der Untergang«, Joachim Fests Film über die letzten Tage im Führerbunker, in welcher Hitler seiner Enttäuschung über Apples neuen E-Reader in einem Wutanfall freien Lauf lässt. Und schon gar nicht all die gern gesehenen Geschichtsdokus auf Arte und 3sat mit ihren Zeitzeugen-Interviews. Nazis – das waren für mich stets Männer auf zackig umrandeten Schwarz-Weiß-Fotografien. Jene uniformierten jungen Männer, die im Vorratszimmer meiner Großmutter schüchtern und mit blassen Wangen von den Marmeladestellagen herunterschauten. Namenlos blieben diese Franzls, Karls, Heinis, Johanns oder wie sie auch geheißen haben mögen, alle gleich und in ihren Wehrmachtsfotos eingefroren. Entrückte Konstanten zwischen den wechselnden Einmachgläsern mit ihren Aufschriften, die zeigten, welcher Marillenjahrgang darin konserviert und welches Birnenkompott eher aufzubrauchen war. Meine Verwandten – ihre Brüder, die nicht mehr aus dem Krieg heimgekehrt waren (weshalb meine Großmutter zeitlebens nicht gut auf »den Russen« zu sprechen war); – seltsam sowieso für mich als Kind, dass ihre teils älteren Geschwister so unendlich weit weg, so jung, so vergilbt, so blass und fremd wirkten. Die Nazis, das waren die Alten. Und Nazideutschland, das war ein Land lange vor meiner Zeit. Meine Gegenwart dagegen: leuchtend und saftig wie die eingekochten Marillen.

Nun hatten sich meine Bilder von damals klarerweise vervielfacht, hatte sich der Blickwinkel auf das Dritte Reich und die menschenverachtende Vernichtungssystematik, deretwegen es einen besonderen historischen Sonder- und Verbrechensfall darstellt, im Lauf der Jahre verändert, hatte sich mein Wissen vertieft. Eines aber war gleich geblieben: Je mehr ich wusste, je intensiver ich mich also auf diese Zeit einließ, desto weiter entfernt war sie. Unpackbar die Geschehnisse. Aber eben auch: lange her. Wie nach dem Tod meiner Großmutter irgendwann auch die Bilder ihrer Brüder verschwunden waren, derer niemand mehr gedachte.

1945 – 1977 – 2010: plus / minus 32 Jahre

Und plötzlich war irgendetwas anders. Ist etwas anders. Lange war es mir nicht wirklich bewusst. Zu Weihnachten habe ich Ian Kershaws gewaltige Biografie über Adolf Hitler verschenkt (durchaus mit dem Vorsatz, sie endlich auch selbst zu lesen). Mich dabei ertappt, in meinem alten Kinderzimmer einen abgegriffenen Band zur Hand zu nehmen, für den sich – vor Jahrzehnten unter dem Titel »Damals war ich vierzehn« veröffentlicht – Christine Nöstlinger, Renate Welsh und andere Kinderbuchautoren mit der eigenen Kindheit und Jugend im Nationalsozialismus auseinandersetzten. Kurz: Das Interesse an der NS-Zeit mitsamt ihrer Vorgeschichte und ihrer Wirksamkeit bis in die Gegenwart hinein war da – wie in den Jahren zuvor. Bloß: Heute wirkt alles präsenter, unmittelbarer. Und einigermaßen paradox. Denn je weiter das Ende des Zweiten Weltkriegs zurückliegt, desto näher rückt es für mich.

Mittlerweile weiß ich: Es ist eine Frage des Alters. Alles lässt sich, eindeutig wie selten sonst, wenn es um Geschichte geht, an wenigen Jahreszahlen festmachen: 1945 – 1977 – 2010. Mittendrin: mein Geburtstag, plus / minus 32 Jahre. Was noch in der Oberstufe unendlich weit weg war – der Zweite Weltkrieg – ist plötzlich in der real erlebten Reichweite meines bisherigen Lebens. Es mag ein ungewöhnliches Denkbeispiel sein, doch: Hätte die Zeit damals, 1977, plötzlich rückwärts in die Vergangenheit zu zählen begonnen, befände ich mich heute, nach 32 Jahren, mitten im furchtbaren Showdown der NS-Herrschaft. In jenem »Untergang«, der dieser Tage auf YouTube so herrlich komisch aus dem Zusammenhang gerissen wird.

Ich bedaure mittlerweile, nicht mit meiner Großmutter, mit keinem meiner älteren Verwandten, die damals bei Verstand waren, über diese Zeit gesprochen zu haben. Wie es mir leid tut, mir die Namen ihrer Brüder nicht einmal gemerkt zu haben. Sie waren – damals alle deutlich jünger als ich es heute bin – womöglich nicht nur Täter, sondern auch Opfer. Und ich widerspreche all denjenigen, die meinen, die Vergangenheit müsse nun bewältigt und endlich Gras über »die Sache« gewachsen sein. Was – in meiner höchstpersönlichen Zeitrechnung – vor gerade einmal 32 Jahren passieren konnte, muss Teil unseres Bewusstseins, unseres europäischen Gedächtnisses bleiben. Auch, weil es Europa im Verbrechen vereint hat, haben wir gerade heute die Pflicht, diesen Teil unseres Erbes wie auch all das Unrecht und Leid, welches der sowjetische Kommunismus der Welt gebracht hat, als Negativbeispiel zu nutzen. Die Losung lautet: Niemals vergessen. Nichts hat etwas daran geändert.

Thomas Weber

weber@thegap.at

Newsletter abonnieren

Abonniere unseren Newsletter und erhalte alle zwei Wochen eine Zusammenfassung der neuesten Artikel, Ankündigungen, Gewinnspiele und vieles mehr ...