Nach langen Monaten des nicht aufhörenden Stroms an immer schrecklicher werdenden Nachrichten, fragen auch wir uns: Was bleibt nach unzähligen Artikeln, Breaking News, Livestreams, Pressekonferenzen und sogar dem einen oder anderen Buch noch zu sagen? Dann haben wir unsere Redaktion und andere Kulturschaffende gebeten, uns an ihrem Blick auf das Jahr 2020 teilhaben zu lassen – und zwar an einem, der sich ausmalt, wie die letzten Monate aussehen hätten können. »Was hat für dich ganz persönlich 2020 durch die Erschwernisse des Jahres nicht stattgefunden?« – das war der Impuls, den wir allen AutorInnnen mitgegeben haben. Von der großen Revolution im Klassenkampf bis hin zum ersten eigenen DJ-Set war vieles dabei. Eine Einladung zu einer alternativen Realität des Jahres 2020.
See you next year, Klassenkampf!
Nicole Schöndorfer
Was für mich durch die Erschwernisse des Jahres 2020 nicht stattgefunden hat: die Revolution — Ich bin Ende März umgezogen. Das war mitten in der ersten Phase der kollektiven Corona-Anxiety. Die Stadt war merklich leer, viele Angestellte waren bereits im Homeoffice oder in Kurzarbeit. Es war die Zeit, in der die Singvögel laut Ornitholog *innen entspannter waren, weil sie sich nicht mehr so abmühen mussten, den Straßenlärm zu übertönen, um zu kommunizieren. Rückblickend waren das the most wholesome news of the year.
Es war die Zeit, als noch jeden Abend um Punkt 18 Uhr aus den Fenstern geklatscht wurde. Nach neun Monaten der Ausnahmesituation haben die Gehaltsverhandlungen für die ach so hochgelobten Systemerhalter*innen im Handel am Ende nichts als einen Inflationsabgleich und einen sogenannten Corona-Bonus gebracht. Letzterer muss jedoch nur von den Unternehmen ausgezahlt werden, die ihn »sich leisten können«. Autsch. Was für ein Schlag in die vom Maskentragen gezeichneten Gesichter derer, die sich der Ansteckungsgefahr täglich aussetzen müssen. Weil die Krise bekanntlich andauert und die Erhalter*innen des Systems es auch weiterhin erhalten sollen, können sie nicht viel machen, außer weiter. Streik? »Um Himmels Willen, doch nicht jetzt!«, würden Liberale schreien.
Ja, es ist ärgerlich, dass gerade in einer Zeit, in der sich aufgrund gewisser krisenbedingter Erkenntnisse ein kleines revolutionäres Potenzial aufgetan hat, keine Revolution stattfinden kann, weil man sich dabei mit einem gottverdammten Virus anstecken könnte. In den letzten Monaten hat sich ganz klar gezeigt, welche Jobs in unserer Gesellschaft wirklich gebraucht werden, wie achtlos Unternehmensführungen mit Mitarbeiter*innen umgehen, wenn sich der Profit, den sie dank deren Arbeit Monat für Monat abgeschöpft haben, aufgrund der fehlenden Aufträge dezimieren könnte. Sie setzen sie vor die Tür. Es gibt in Österreich so viele Arbeitslose wie noch nie in der Zweiten Republik. In anderen Ländern sieht es nicht besser aus, während Jeff Bezos, Elon Musk und Co ungebrochen Milliarden einstecken. Nachdem mehrheitlich Frauen immer schon Job, Kinder, Pfle- ge und Haushalt vereinbaren mussten, kam aufgrund der geschlossenen Schulen noch Homeschooling dazu.
Etablierte Medien haben irgendwann wenig überraschend wieder aufgehört, die anfangs noch interessanten »Held*innen des Alltags« zu beleuchten. Dennoch haben mehr und mehr Menschen erkannt, dass das vorherrschende Wirtschaftssystem absolut nicht nachhaltig ist und Regierende beim Krisenmanagement eben nicht das Wohl der Bevölkerung, sondern das des Kapitals im Sinne haben. Diese frohe Kunde verbreitet sich nach wie vor.
Trotz all der Erschwernisse war und ist dieses Jahr ein Jahr des Widerstandes und des globalen Klassenkampfes. Man kann nur erahnen, welche massive Wucht die Verzweiflung und Wut der Menschen hätte, wenn es kein Ansteckungsrisiko geben würde, das viele auch zurecht davon abhält, auf den Straßen aufzubegehren. Es gab 2020 zwar noch keine Revolution, aber wenn erst alle geimpft sind, ist es over for you bitches.
Nicole Schöndorfer ist freie Journalistin und Aktivistin in Wien. Sie beschäftigt sich mit feministischen und klassenpolitischen Themen, u. a. in ihrem wöchentlichen Podcast »Darf sie das?«.
Weiter zu: Schlechte Zeit für Liebeskummer — Oliver Maus