»Wir sind weniger individuell, als wir glauben« – David Schalko im Interview zu »Ich und die Anderen«

Kein Mensch ist eine Insel. In seiner neuesten Serie geht Regisseur und Autor David Schalko auf Spurensuche nach dem eigentlichen Wesen unserer von Individualismus geprägten Gesellschaft. Im Interview spricht er über die Krux der Selbstentfaltung, den aktuellen Streamingmarkt sowie seine neue Rolle als Direktor der Thomas Bernhard Gesellschaft.

© Ingo Pertramer / Superfilm

Was, wenn wir unser Leben nach Belieben abändern könnten? Jedes Mal die Karten neu mischen würden? Aber nicht wie jeder andere Mensch auch, durch Arbeit am eigenen Verhalten, sondern indem man das Verhalten der anderen mittels Wünschens anpasst. In dieser Situation befindet sich Tristan (Tom Schilling), als er eines Tages mit der Feststellung aufwacht, dass er sich seine Umwelt so zurechtwünschen kann, wie er sich das vorstellt. Ob nun alle alles über ihn wissen oder jeder immer die Wahrheit sagen muss – es ergeben sich ständig neue Konstellationen und Herausforderungen, die Tristans Alltag bald auf manische Gipfel der Absurdität treiben.

Zu diesem Cocktail aus Existenzanalyse, Empathieforschung, Exzentrik und Science-Fiction serviert Autor und Regisseur David Schalko auch die eine oder andere brennende Frage. Wer sind wir wirklich? Wer glauben wir zu sein? Und wo verläuft die feine Linie zwischen Altruismus und Ego? Mit dabei auf dieser Suche nach Antworten – oder zumindest Denkanstößen – sind Charakterschauspieler*innen wie Tom Schilling, Lars Eidinger, Mavie Hörbiger, Michael Maertens, Katharina Schüttler oder Ramin Yazdani.

Wie bist du auf die Idee für die Serie »Ich und die Anderen« gekommen? Was war der aus­lösende Urknall?

David Schalko: Es war gar nicht so sehr ein Urknall. Ich habe vor ein paar Jahren mal eine Folge für mich selbst geschrieben und sie dann ein Jahr liegen lassen. Eine Idee an sich ist ja etwas sehr Einfaches, aber das war schon etwas sehr Komplexes, und das hat erst wachsen müssen. Dann hat sich das Thema in einem zufälligen Gespräch mit Sky ergeben. Am Anfang habe ich mir gedacht, dass die das nicht machen wollen – aber dann wollten sie doch. Es war daher eine relativ unbeschwerte Geschichte. Was für solche Projekte wahrscheinlich ganz gut ist, sonst kommen sie ohnehin nicht zustande.

Wiederkehrende Themen sind Isolation, Entfremdung und die Ich-AG. Sind das Phänomene unserer Zeit, funktionieren wir nur in Abhängigkeit von anderen? Oder ist das ein ewiger Zyklus?

Ich glaube, wir waren nie von den anderen getrennt. Dieser Individualismus, der sich losgelöst von den anderen als Insel versteht, das ist doch ein Phänomen der Neuzeit. Das hat auch sehr viel mit unserer Gesellschaft zu tun, unter anderem mit der individuellen Entfaltung, die übertrieben ausgerufen wurde in den letzten Jahrzehnten. Aber auch natürlich mit Social Media, die das Pervertieren dieser Selbstentfaltung sind, wo man die anderen nur noch als Statisten im Leben wahrnimmt. Und natürlich auch mit der Leistungsgesellschaft, wo der eine immer besser sein muss als der andere und ständig dieser Wett­bewerb entsteht.

Was ist denn das Problem der Selbstentfaltung?

Ich glaube, dass wir weniger individuell sind, als wir meinen. Oder dass wir uns für wahnsinnig wichtig nehmen und deswegen auch so ein großes Problem mit Vergänglichkeit haben. Die Ängste der westlichen Gesellschaft haben sehr viel mit Verlustängsten zu tun. Die entstehen immer dann, wenn man an etwas sehr haftet und alles festhalten will.

Die Hauptfigur sagt immer, es soll um ihn gehen, aber er kann dann doch nicht ohne die anderen. Wo liegt denn hier die Wahrheit?

Die Frage ist ja, was das Ich ist. Definiert sich das Ich auch darüber, wie man von anderen gesehen wird? Oder wie man glaubt, dass man von anderen gesehen wird? Das Ich spiegelt sich immer in den anderen, was es sehr stark vom Ich-Gefühl unterscheidet. Das trennt, verbindet einen aber auch mit den anderen. In der Serie geht es sehr stark um Empathie, was das überhaupt ist, und in welcher Verbundenheit wir zu den anderen stehen. Ich glaube nicht, dass man das Ich nur als »Hier bin ich und dort sind die anderen« definieren kann, sondern dass alles zusammenhängt.

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