Der geheime Verbündete

Anlässlich der Veröffentlichung der Autobiografie „My Most Wanted Life“ ein Griff ins Verlagsarchiv: MTV-Legende Ray Cokes im (ziemlich zeitlosen) TBA-Interview, erschienen in der Ausgabe September 2007.

Nach „Most Wanted“ wollte man eine neue Show mit dir machen. „X-Ray Vision“ hat aber nicht so recht funktioniert. Schließlich kam dann diese verheerende Live-Show in Hamburg, die deinen Abschied eingeläutet hat …

Der Sender hat damals ziemlich gelitten, weil mit Viva langsam, aber sicher die Konkurrenz auf den Markt gekommen ist. Ich musste nach Hamburg, um den Sponsoren zu zeigen, dass MTV besser ist als Viva. Doch sie gaben mir bloß zwei Wochen zur Vorbereitung. Ich wusste, ich kann nicht in Hamburg ankommen mit einer MTV-Fahne in der Hand und sagen: „Hier bin ich!“ Man muss den Leuten schon etwas mehr bieten …

Die Sache wurde erwartungsgemäß zum Desaster. Vor allem, weil MTV angekündigt hatte, Die Toten Hosen würden live vor Ort auftreten. Das wusste ich nicht, und als ich die Band anmoderierte – „Und jetzt die Toten Hosen. Live in Berlin. Via Satellit.“ –, drehte das Publikum durch. Bierbecher flogen, der Mantel einer Mitarbeiterin wurde mit einem Messer aufgeschlitzt … Ich dachte, das ist zu gefährlich, gleich stürmen sie die Bühne. Die Show ging den Bach runter.

Zurück in London hat man mir vorgeworfen, wegen mir würde MTV nun schlecht dastehen. Sie hätten mich für sechs Wochen in Urlaub geschickt, doch das wollte ich nicht. So hab ich noch eine Show gemacht und bin dann gegangen. Viele Medien wollten damals mit mir über den Vorfall sprechen. Ich wusste nicht, wie ich damit umgehen sollte, und hab mit Robbie Williams und George Michael telefoniert, die ich beide recht gut kannte. Sie haben mir geraten, keine Interviews zu geben. Voller Zorn vor die Medien zu treten, das mache kein gutes Bild, meinten sie. Also nahm ich meinen Hut, ohne zu sagen, warum und weshalb.

Und wie ist es danach weitergegangen?

Ich habe mich erst einmal etwas ausgeruht. Bin Motorrad gefahren, habe meine Mutter besucht, meinen Garten umgegraben, Tomaten angepflanzt … Und dann hab ich versucht, wieder Fuß zu fassen. Die Leute von MTV haben anfangs probiert, mich zurückzuholen, aber weil sie mein Vertrauen missbraucht hatten, wollte ich nicht mehr zurück. Also drehten sie den Spieß um und stellten sicher, dass ich in London bei keinem anderen Sender unterkommen würde. Überall wo ich hinging, hieß es: „Ah, du bist doch der Typ von MTV, der in Hamburg duchgedreht ist.“ Also bin ich nach Frankreich gezogen, um hier zu arbeiten.

Wie bist du damit umgegangen? Zu dieser Zeit schossen ja überall Shows aus dem Boden, die sich sehr erfolgreich an „Most Wanted“ orientierten.

Ein Jahr lang war das alles sehr schwierig für mich. Ich war verbittert und böse, weil all die Leute, dich mich kopierten, viel Geld damit verdienten. Ich hatte Depressionen, wusste nicht, was ich tun sollte. Als Musiker gehst du in so einer Situation einfach in den Keller und schreibst ein paar neue Songs. Aber wenn du TV-Moderator bist, geht das nicht. Du kannst nicht deine Freunde bitten, dich zu filmen … Das Traurigste daran war: Als ich MTV verließ, wusste ich, dass das die beste Sache war, die ich je machen würde, dass ich nie wieder so viel Freiraum haben würde. Aber mittlerweile ist es okay. Es hat nur etwas gedauert, um es hinter mir zu lassen.

Siehst du jetzt noch gelegentlich MTV?

Nein. Was Musik anbelangt, hole ich mir anderswo meine Inspiration, da bin ich ein altmodischer Kerl, gehe in Plattenläden und höre mir dort neue Sachen an. Und wenn ich auf Reisen im Hotelzimmer mal über MTV stolpere, dann ist da bloß Paris Hilton zu sehen, oder es läuft eine Dating Show oder „Pimp My Fucking Mother“. Das ist nichts für mich …

Zur Person: Ray Cokes

(Stand: September 2007)

Raymond Christopher Cokes wurde am 24. Februar 1958 auf der Isle of Wight geboren. Seine ersten Schritte als Moderator machte er bei einem belgischen Piratensender. 1987 wechselte er zum gerade neu gegründeten MTV Europe nach London, wo er mit der Live-Sendung „Most Wanted“ Fernsehgeschichte schreiben sollte. Am 14. April 1992 feierte die Show Premiere, sie wurde vier Mal die Woche ausgestrahlt und erreichte mehrere Millionen Zuseher in 38 Ländern. „Most Wanted“ lief vier Jahre lang. Nach wenigen Ausgaben der darauf folgenden größer dimensionierten wöchentlichen Show „X-Ray Vision“ verließ Cokes MTV im Mai 1996. In den letzten zehn Jahren war er als Moderator für verschiedene TV- und Radiostationen in Deutschland, England und zuletzt in Frankreich tätig. Vor Kurzem ist Ray Cokes wieder nach London gezogen, wo er gerade an einem Buch über seine Zeit bei MTV arbeitet.*

* Das Ergebnis, die Autobiografie „My Most Wanted Life“, liegt nun vor und ist im Verlag Schwarzkopf & Schwarzkopf erschienen.

Bild(er) © Michael Nemeskal (2), Monopol Medien (1), Schwarzkopf & Schwarzkopf (1)
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