Der geheime Verbündete

Anlässlich der Veröffentlichung der Autobiografie „My Most Wanted Life“ ein Griff ins Verlagsarchiv: MTV-Legende Ray Cokes im (ziemlich zeitlosen) TBA-Interview, erschienen in der Ausgabe September 2007.

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Mit der preisgekrönten Show „Most Wanted“ brachte Ray Cokes in den 90er-Jahren die geordneten Fernseh-Verhältnisse gehörig ins Wanken. Er avancierte zum gefeierten TV-Star und zum prägnantesten Gesicht des Senders MTV Europe. Ein Gespräch mit der Moderatoren-Legende über paneuropäisches Fernsehen, gefährliche Live-Shows und McDonald’s TV.

Vor 15 Jahren hast du auf MTV zum ersten Mal die Show „Most Wanted“ moderiert. Warum war die Sendung deiner Meinung nach europaweit so ein großer Erfolg?

Ich glaube, das hatte damit zu tun, dass „Most Wanted“ das Fernsehen entmystifizierte. TV-Moderatoren waren immer sehr ernst. Ich aber habe mich selbst zum Clown und meine Fehler zum Teil der Show gemacht. Die Zuseher sollten mich als einen Freund betrachten, der das große Glück hat, im Fernsehen zu sein. Und schau, da sind ja auch Radiohead … Die Show war sehr nahe an den Leuten dran, so wirkte sie irgendwie „echter“.

Du hast damals einen sehr engen Kontakt zu den Zusehern gepflegt. Mit ihren Briefen, die du live auf Sendung beantwortet hast, waren sie gewissermaßen Teil der Show. Bist du nach wie vor in Kontakt mit Leuten aus dieser Zeit?

Es ist nur 15 Jahre her, aber das war damals eine ganz andere Welt. In den alten Tagen sahen die Leute MTV als ihren geheimen Verbündeten. Meine Show brachte viele Kids durch schwere Zeiten, wie zum Beispiel den Krieg in Bosnien. Aber auch in Deutschland half es jungen Leuten, wenn sie keine Freunde hatten oder nicht mit ihren Eltern reden konnten. Solche Dinge waren für mich sehr bewegend, und zu manchen dieser Menschen besteht immer noch ein recht enger Kontakt.

„Most Wanted“ war ein europaweites Phänomen, schließlich begann MTV erst später, regionale Programme für einzelne Länder zu entwickeln …

Dieser paneuropäische Aspekt von MTV Europe war immer schon eine besondere Leidenschaft von mir. Ein Sender, der von verschiedenen Leuten aus verschiedenen Ländern gesehen wird, die aber alle die gleichen Gedanken, Gefühle und den gleichen Geschmack in Sachen Popkultur haben. Für mich war das die einzige Zeit, in der die Leute wirklich jenes vereinte Europa gespürt haben, über das die Politiker ständig sprechen. Deshalb hat mir die Regionalisierungsstrategie MTVs auch nicht wirklich gefallen.

Siehst du eine Chance, auf einem anderem Weg wieder eine solche paneuropäische Fernsehsendung zu etablieren?

Ich habe versucht, so etwas auf die Beine zu stellen. Ich bin mit diesem Anliegen zur europäischen Kommission in Brüssel gegangen, doch das war die reinste Zeitverschwendung. Meines Erachtens liegt die Zukunft auch nicht im Fernsehen. Ich verdiene mein Geld zwar auch jetzt noch damit, aber es ist nicht länger die wirklich spannende Domäne. IPTV und das Internet – das sind Dinge, in denen ich wesentlich mehr Potenzial sehe.

Die unruhige Kameraführung, die zahlreichen Nebencharaktere aus deinem Team, die Interaktion mit dem Publikum – denkst du, dass die Art und Weise, wie ihr „Most Wanted“ damals angelegt habt, die Regeln für TV-Moderatoren neu definiert haben?

Durchaus! Das Fernsehen war aus meiner Sicht damals zu statisch und zu langweilig. Es musste doch möglich sein, die Regeln öfter mal zu brechen. Schließlich ging es um MTV, nicht um die BBC … Als MTV nach Europa kam, war es bereits seit fünf Jahren in den USA aktiv. Und es gab eine Art Bibel, eine MTV-Bibel, die man als Moderator lesen musste. Da standen Dinge drin wie: Sprich keinesfalls länger als 45 Sekunden! Schau immer in die Kamera! Du musst immer weiße Zähne haben! Ich hab mich an nichts davon gehalten. Mein Boss hat das verstanden, aber er hat mir auch gesagt, dass das die MTV-Leute in Amerika nicht gut fänden.

Wenn du ein Unternehmen wie McDonald’s hernimmst, dann gibt es dort eine bestimmte Art, einen Cheeseburger zuzubereiten. Du legst den Käse nicht unters Fleisch, sondern oben drauf. Und bei MTV ist es im Prinzip genauso gelaufen. Doch mein Boss ließ es mich auf meine Art machen, weil ich bessere Einschaltquoten hatte als alle anderen.

Wäre eine Sendung wie „Most Wanted“ heutzutage auf MTV noch möglich?

Nein, sicher nicht. Das Fernsehen traut sich heutzutage kaum noch etwas. Die Leute sehen eine Sendung auf einem Kanal und denken sich: „Lasst uns das nachmachen!“ Das Format einer Show ist heutzutage König, nicht der Moderator. TV-Sender wollen bloß Leute, die gut aussehen, aber niemanden mit Charakter, der die Sache gerne etwas anders anlegen würde.

Nächste Seite: Ray Cokes über eine verheerende Live-Sendung, die schwierige Zeit nach MTV und Shows wie „Pimp My Fucking Mother“

Bild(er) © Michael Nemeskal (2), Monopol Medien (1), Schwarzkopf & Schwarzkopf (1)
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