Die Erfindung des Country

Johnny Cash hat die Bristol Sessions als Urknall von Country bezeichnet. Jetzt bringt eine umfassende CD-Sammlung Licht in die Finsternis der Country-Urzeit.

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Die Orte der Umgebung haben Namen wie Lebanon, Saltville, Dante, Snowflake, Damascus, Lynch oder Camp Rock. Unmittelbar an der Grenze von Tennessee und Virginia, in Kanonenreichweite von Kentucky und North Carolina liegt Bristol, im Herz der Appalachen. 1927 nahm das Label Victor dort eine Reihe von Schluchtenscheißern auf, ließ sie auf ihren Fiedeln und Banjos jauchzen um damit gutes Geld zu machen. Dixie Songs waren da nämlich schon überaus beliebt, in den hügeligen Südstaaten schlummerte viel braches Talent, die Labels waren dort allerdings noch schlecht verankert. Deshalb schickten sie Aufnahmeteams quer durch den Süden, damit die mit ihren tragbaren Hi-Tech-Geräten neue, mögliche Hits der Hillbillys entdecken sollten. Die dabei entstandenen Sessions in Bristol aus dem Sommer 1927 gelten als der Urknall von Country Musik. Johnny Cash hat sie als das wichtigste Ereignis in der Geschichte von Country bezeichnet, sie sind heute Teil des Verzeichnis’ national bedeutsamer Aufnahmen des US Kongresses. Tragender Pfeiler im nationalen Mythengebäude der USA also. Cirka gleich neben den Sun Studios und Bruce Springsteen.

Dabei war die Triebfeder hinter den Bristol Sessions erst einmal das Geld. Ein Journalist hatte Tags zuvor in der Zeitung erwähnt, dass einer der eingeladenen Musiker ein Vielfaches eines damals durchschnittlichen Jahresgehalts mit seinen Aufnahmen verdiente. Der Ansturm an den Tagen der Sessions war enorm. Um zu den Sessions zu kommen, nahmen einige Bands größere Anstrengungen auf sich. The Skillet-Lickers aus Georgia hatten wenige Monate zuvor einen komödiantischen Skit eingespielt. Ernest Stoneman versuchte das zu imitieren. Außerdem wurden hier die Carter Family und Jimmy Rodgers erstmals – und in bis dahin nicht gekannter Qualität – aufgenommen, zwei der zentralsten Artists in der Frühgeschichte von Country. Ihre Aufnahme waren damals allerdings noch keine lukrativen Geschnitten-Brötchen.

Innit 4 The Money

Halb kommerziell, halb traditionell, so sieht das 124-seitige, großformatige Bookletbuch die insgesamt 67 Songs der Bristol Sessions – keine Spur also von unberührter, romantischer Authentizität in ein paar vergessenen Tälern der Appalachen. Diese Leute wollten Geld machen und Musik war ein willkommenes Mittel. Songs mit Stimme bekamen den Vorzug vor instrumentalen Traditionals. Dass Country und Folk in den 50er Jahren wieder entdeckt wurde und alle möglichen Fantasmen und Bilder in sie hinein projiziert wurden – Ursprünglichkeit, in sich selbst ruhender, unmittelbarer Ausdruck einer armen, aber stolzen Landbevölkerung – ist zumindest nicht voll im Sinn der Erfinder von Country Musik. Die Labels selbst förderten andrerseits diese Mythenbildung schon sehr früh.

Die Sessions als Geburtsstunde von Country zu bezeichnen ist ebenfalls nicht ganz unumstritten. Schon 1922 waren die beiden Fiddler Eck Robertson und Henry Gilliland nach New York gereist und hatten auf einige Bitten hin bei Victor die möglicherweise ersten kommerziellen Country-Songs („Arkansas Traveler“ und „Turkey On A Straw“) aufgenommen. Veröffentlicht wurden sie allerdings erst, nachdem John Carson Anfang 1923 auf dem Label Okeh den Hillybilly-Boom einläutete. Dixie Songs, oder Old Time Music, hatten sich bald als eigenes erfolgreiches, wenn auch nicht sonderlich prestigeträchtiges Genre heraus gebildet. Denn die Hügelhobbits in den Südstaaten kamen oft mehrere Wochen nicht von ihren Höfen weg und mussten mehrere Exemplare eines Songs auf Vorrat kaufen, weil die Nadel der Kurbel-Grammophone Vinyl damals noch stark abnutzte. Ein unschlagbares Rabatt-Argument.

Gott und Sex

Die Songs selbst bieten eine erstaunliche Palette an Stilen und Spielweisen; Jazz, Gospels, Blues, säkulare und geistliche Songs, Tanztunes, langsam wiegende Walzer, A Capellas und instrumentale Stücke; auch wenn sich heute viel davon beknackt und uralt anhören. Sie halten oft keine strengen Taktmaße, zögern hinaus, verschleifen das Tempo, dass dem strengen Musikpädagogen ganz übel werden müsste. Sie bestehen aus einfachen Akkordfolgen, meistens ohne Schlagzeug, werden oft nur von der Gitarre oder einer Fidel begleitet. Es sind meistens sehr einfache Geschichten von außerehelichem Sex, betrogener Liebe, Gott und so weiter.

Den Texten in dem 124 Seiten starken, großformatigen Bookletbuch fehlen trotz einer schmalen Einführung und kurzen biografischen Texten weiterführende Horizonte; sie listen dafür eine ausufernde Zahl an bibliografischen Angaben auf, die man heutzutage wohl lieber im Internet nachlesen würde. Songtexte sind dafür willkommen. Und gern hätte man von den studierten Booklet-Verfassern angesichts der historischen Tragweite dieser Aufnahme-Sessions Literatur-Empfehlungen bekommen. Ist nicht, macht nichts. Es bleibt ein umfassender Schuber mit insgesamt 124 Songs aus den Sessions von 1927 und den weniger bekannten von 1928 und sämtlichen alternativen Aufnahme-Takes. Für Archivare und Komplettisten ist das wohl ein unumgängliches Artefakt verfeinerter Bildungskultur. Ideal also zum Angeben im Bücherregal.

Die 5 CD-Box "i>The Bristol Sessions, 1927 – 1928" ist bereits via Bear Family erschienen.

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