Max Richter lud am vergangenen Wochenende im Rahmen von Johann Strauß 2025 zu einem nachtfüllenden Anti-Rave. Bei »Sleep« spielt die ganze Nacht Musik, statt zum Tanz wird aber zum gemeinsamen Schlafen geladen.

Sobald man am vergangenen Samstag ab 22 Uhr den Malersaal im Wiener Arsenal betreten hat, findet man sich in einer kuriosen Modeschau der Nachtgewänder wieder. Vom eleganten Einteiler in weiß kombiniert mit schwarzen Lackschühchen bis hin zum klassischen Karomuster und der eher kurzfristig improvisierten Gemütlichkeit durch den unter den Arm geklemmten Lieblingsteddy finden sich hier alle möglichen Vorlieben des bekleideten Zubettgehens. Die dreiteilige Reihe »Dance – Move – Sleep« des Johan Strauß 2025 Festivals reflektiert die Energie des Wiener Walzers an besonderen Orten. Das achtstündige Konzert »Sleep« der gleichnamigen Komposition des Briten Max Richter stellt den letzten und wohl ungewöhnlichsten Teil hiervon dar.
Nachdem die Tasche kontrolliert wurde wie am Flughafen, wird man von einer Mischung aus Aufregung, Vorfreude und Ruhe begrüßt. Der Saal ist in orange-blaues Licht getupft und es spielt ein gedämpft rauschender Loop von Max Richter, der Bilder zwischen Autobahn und Strand evoziert. Angekommen an einem der über 200 gemütlich bezogenen Feldbetten wird aufgrund der eingetrockneten Farbflecken am Holzboden klar, dass die Location Malersaal und nicht – homophon – Mahlersaal heißt. Der siebten Sinfonie Mahlers wurde zwar der Beiname »Lied der Nacht« verpasst, was hier nur allzu gut passen würde, aber die Malersäle im Arsenal werden tagsüber als Werkstätten genutzt in denen Dekorationen für die Wiener Staatsoper, das Burgtheater und die Volksoper Wien hergestellt werden.
Schlafwandlerisch
Noch eine halbe Stunde bis Veranstaltungsbeginn. Festivalintendant Roland Geyer lädt die Besucher*innen ein, sich auf ihre Plätze zu begeben, sodass das Konzert pünktlich um 23:30 Uhr beginnen könne. Er verkündet bereits jetzt, dass man sich laut Wetterbericht auf einen schönen Sonnenaufgang freuen könnte. Leicht vorstellbar, scheint doch gerade noch der Mond hell herein. Der Pressekollege im Bett nebenan lädt sich trotzdem noch stirnrunzelnd eine Kompass-App herunter, nur um festzustellen, dass die Fensterfront nach Nordwesten ausgerichtet ist. Darüber hinaus gibt es nicht viel zu sagen, außer dass man sich möglichst ruhig verhalten solle, wenn man sich nachts durch den Raum bewegen möchte, wozu herzlich eingeladen wurde. Denn obwohl Konzept und Titel nahelegen, dass während des achtstündigen Konzerts geschlafen wird, ist das nicht die einzige Möglichkeit diesen Zyklus zu erleben. Die ersten Paare beginnen ihre Betten zusammenzuschieben, das Publikum nistet sich ein.
Ein Gedanke, der mehrere Menschen vor, während und nach der Performance begleiten wird, betrifft die Versuchsanordnung selbst. Angesichts des Saales, der in Reih und Glied mit Feldbetten bestückt ist, drängt sich die Frage auf, wie häufig man sich aus willkommenen Gründen in einer solchen Situation befindet. Die Kulisse des militärisch-monumentalen Festungsbaus des Arsenals, das durch die große Fensterfront ein permanent begleitendes Panorama darstellt und unter anderem das Heeresgeschichtliche Museum beheimatet, erinnert zusätzlich an präsente Kriege und Krisen, die global für weitaus weniger einladende kollektive Schlafstätten sorgen.

Routinierte Band
Max Richter und die sechs Begleitmusiker*innen betreten die Bühne. Richter selbst nutzt die Gelegenheit, um vier Minuten vor Beginn noch ein paar Worte an das bereits gebettete Publikum zu richten. Obwohl »Sleep« eine österreichische Erstaufführung darstellt, besteht das Stück bereits seit zehn Jahren. Dementsprechend unaufgeregt und routiniert wirken Richter und seine Band. Sie sind die wenigen im Raum, die wissen, was in den nächsten Stunden passieren wird. Man solle das Folgende wie einen kurzen Urlaub betrachten. Die letzten Worte, bevor es losgeht: »We’ll see you on the other side.«
Dann beginnt das Motiv am Klavier, dessen Variationen die nächsten Stunden in mehr oder weniger bekannter beziehungsweise zuordenbarer Form das Bettenlager durchströmen werden. Der Klang von Klavier, Streicher*innen, Stimme und elektronischen Zuspielern ist durchwegs satt sowie ausgetüftelt und wird gut auf den Raum übertragen. Allein das schafft ein phänomenales Hörerlebnis. In den nächsten Stunden werden einige lesen, meditieren, herumgehen oder eben schlafen. Manche wachen die ganze Nacht hindurch – ständig begleitet durch die Musik von der Bühne und der perkussiven Soundkulisse aus dem Publikumsraum: Schritte, Husten, Schnarchen.
In der Entstehungsphase seines »Wiegenlieds für eine hektische Welt« habe Max Richter einen Neurowissenschaftler konsultiert, um nicht versehentlich etwas zu komponieren, was sich auf den Schlaf hinderlich auswirke. Ausgangspunkt war die Zeit um 2014 herum, als 4G-Internet auf unsere Smartphones wanderte und damit alle Dämme der Informationsflut endgültig brachen. Im Podcast »Classical Conversations« erzählt Richter kurz nach Entstehung des Stücks, dass er sich beim zwischenzeitlichen Erwachen nachts oft nach Orientierung sehne und die Komposition mit seiner Basismelodie, die immer dieselbe DNS in sich trage, soll genau das erwirken.
Zwischen Dösen und Schlafen
Das ist nicht immer erkennbar. Als einer derer, die tatsächlich weite Strecken des Konzerts an der Schwelle zwischen Dösen und Schlafen verbringen, reißt mich gegen vier Uhr Früh der raumfüllende Bass-Puls aus dem Schlaf. Das Klaviermotiv ist zu einem ätherischen Drone-Klangbad verwaschen und die Streichinstrumente werden nicht mehr gegriffen, sondern auf offenen Saiten gestrichen. Auf den ersten Blick scheinbar eine Möglichkeit für die Musiker*innen, kurz zu verschnaufen und die Hände auszuruhen – laut Richter aber einer der anstrengendsten Parts für die Combo, weil auch die ausgewaschenen Pulse relativ genau erfolgen müssen.
»Sleep« ist keine Improvisation, sondern ein ausnotiertes Musikstück, bei dem alles dann passiert, wenn es passieren soll. Nicht umsonst haben alle außer Max Richter einen Click-Track auf den Kopfhörern, Bildschirme mit der genauen Konzertdauer in Hundertstelsekunden sind auf der Bühne verteilt. Ein weiterer Gedanke drängt sich auf: Wie oft verspielen sich die insgesamt sieben Musiker*innen in den acht Stunden wohl? Und ab wann wäre hypothetisch ein solches Verhältnis von richtigen zu falschen Noten gegeben, dass man von einem misslungenen Konzert sprechen würde? Dann lieber zurück in den Schlaf.
Wachzustand
Ab 6:45 Uhr wird die Musik intensiver, damit auch wirklich alle aufwachen. Die Gesichter auf der Bühne wechseln zwischen Schlusssprint-Euphorie und Schmerzensqualen. Max Richter massiert sich am Flügel sitzend notgedrungen seinen Rücken. Jene, die nicht geschlafen haben, berichten, dass er sich während eines Loops einen Moment gegönnt hat, um sein Körpergefühl zurückzubekommen während er sich streckend durch das Publikum bewegt habe. In den letzten zwanzig Minuten wird die Komposition noch mal richtig intensiv. Immer mehr Menschen wachen auf, strecken sich, grinsen, kuscheln und nicken sich grüßend zu. Nach und nach dämmert die romantische Idee, dass in diesem intimen Moment eine gewisse Gleichheit eintritt.
In »Vom Schlaf« schrieb Jean-Luc Nancy 2007 im Kapitel mit dem Titel »Gleiche Welt«: »Alles kommt sich selbst und dem Rest der Welt gleich. Alles gibt sich der allgemeinen Äquivalenz anheim, in der ein Schläfer so viel wert ist wie irgendein anderer Schläfer und jeder Schlaf so viel wert ist wie alle anderen, egal wie er scheinen mag.« Die Idee der Gleichheit wird allerdings vom Wissen um den Kartenpreis von 200 Euro begleitet. Die Gleichheit im Schlaf entspricht eben nicht der Gleichheit der Realität, der hier gerade zu entfliehen versucht wird – sofern man es sich leisten kann.

Der Alltag ruft
Als punktgenau acht Stunden nach der ersten Note der letzte Hall des Klaviers verklingt, stehen die meisten endgültig aus den Federn auf, um sich mit Standing Ovations bei Max Richter und seinen Mitmusiker*innen zu bedanken. Die Stimmung ist gerührt: es fließen Tränen, Blumensträuße werden übereicht – niemand ruft nach einer Zugabe. Für die einen geht es jetzt zum im Preis inkludierten Wiener Frühstück, welches noch im Bett verzehrt werden darf. Es wird sich darüber unterhalten, wo geschnarcht wurde, was man fühlte und wie müde oder aktiv man jetzt sei. Den abschließenden Worten Geyers hören nur noch wenige zu, wichtiger ist der Weg Richtung Kaffee, Toilette oder raus in die Sonnenstrahlen.
Der Urlaub ist vorbei, das besondere Erlebnis weicht wieder dem Alltag. Max Richter wird kommenden Oktober wieder in Wien zu Gast sein, diesmal im Musikverein. Bis »Sleep« hierzulande wieder aufgeführt wird, könnte es ein Weilchen dauern. Bis dahin mag eine Aufnahme des Stücks – in voller Länge auf verschiedenen Plattformen zu finden – im Schlafzimmer daheim ein wenig Abhilfe schaffen.
»Sleep« von Max Richter wurde am 8. März 2025 im Malersaal des Wiener Arsenals aufgeführt.