Als proletarischer Gegenentwurf zum alten Krakau nach dem Zweiten Weltkrieg als sozialistische Musterstadt inklusive Schwerindustrie auf die grüne Wiese gestellt, ist Nowa Huta heute ein spannendes Geschichtsdenkmal.

Der Bau planmäßig angelegter Städte oder Stadtteile reicht zurück bis in die Antike und wird bis heute praktiziert. Heimische Beispiele sind das 1268 gegründete Marchegg, die größte geplante mittelalterliche Stadt Ostösterreichs, genauso wie die ab 2009/2010 gebaute Seestadt Aspern.
Wir werfen einen Blick auf Stadt- oder Stadtteilgründungen in der Epoche der Nachkriegsmoderne: Nach 1945 teilte sich Europa in West und Ost, Demokratie und Sozialismus, Nato und Warschauer Pakt, Kapitalismus und Planwirtschaft. Große Teile Europas lagen in Trümmern. Es galt auf beiden Seiten, ganze Städte wieder zu errichten oder in neuen Stadtteilen Wohnraum zu schaffen.
New Towns
Während Großbritannien unmittelbar nach dem Krieg mit dem Bau eines guten Dutzends sogenannter New Towns begann, sind nach dem Krieg errichtete Planstädte beziehungsweise Planstadt-Stadtteile im übrigen Westeuropa dünn gesät. Beispiele finden sich mit den nach Kriegszerstörungen wiederaufgebauten Städten Rovaniemi in Finnland (nach 1944 und 1945 entworfenen Plänen von Alvar Aalto) oder dem von 1944 bis 1964 von Auguste Perret wiederaufgebauten Le Havre in Frankreich, das seit 2005 Unesco-Weltkulturerbe ist. Komplette Neugründungen sind unter anderem Sennestadt (BRD, erbaut ab 1956) oder Metanopoli (Italien, erbaut ab 1952).
Die richtig großen Neugründungen fanden allerdings in Osteuropa statt, wo ganze Städte oder enorme Stadtteile, oft in Verbindung mit neu errichteten Industriekomplexen, aus dem Boden gestampft wurden. Beispiele dafür sind Eisenhüttenstadt (wir berichteten), Schwedt oder Halle-Neustadt in der DDR, Minsk (Belarus), Dimitrowgrad (Bulgarien), Dunaújváros (Ungarn) oder Ostrava-Poruba (Tschechien). Die Liste ließe sich noch fortsetzen.
Proletarisches Gegengewicht
Eine dieser neuen Städte – mittlerweile eingemeindet und daher streng genommen ein Stadtteil von Krakau – ist Nowa Huta (übersetzt: neue Hütte). Ende der 1940er-Jahre begannen die Bauarbeiten für die sozialistische Planstadt inklusive Stahlwerk in dem zuvor bäuerlich-agrarisch geprägten Gebiet. Warum nahe Krakau? Den Kommunisten waren Krakaus Bourgeoisie und Kirche suspekt, Nowa Huta sollte ein proletarisches Gegengewicht schaffen.

Plac Centralny im. Ronalda Reagana (© Martin Zellhofer)
Acht Kilometer sind es mit dem Rad vom Hauptplatz der historischen Altstadt Krakaus zum Hauptplatz von Nowa Huta. Die Straßenbahnverbindungen nach und innerhalb Nowa Hutas sind gut, aber das Fahrrad bietet noch mehr Möglichkeiten, den Stadtteil zu erkunden. Benannt ist der Plac Centralny im. Ronalda Reagana nach … Ronald Reagan. Als Würdigung seiner Unterstützung der unterdrückten Bevölkerung Polens. Ursprünglich hieß er Lenin-Platz.

(© Martin Zellhofer)

(© Martin Zellhofer)

(© Martin Zellhofer)

Vorbild Renaissance (© Martin Zellhofer)
Josef Stalin äußerte 1934, Kultur habe »national in der Form, sozialistisch im Inhalt« zu sein. Da die Krakauer Altstadt einen großen Anteil an prächtigen Bauten der Renaissance aufwies (und bis heute aufweist), wurde dieser Baustil zur »nationalen Form« erhoben. Viele Gebäude der ersten Baujahre Nowa Hutas und insbesondere deren Dekorierung orientieren sich mit ihren Arkaden und Verzierungen daher an der Renaissance.

Grau, aber doch gefällig (© Martin Zellhofer)
Unten Geschäfte, Handwerk und Gastronomie, oben die Wohnungen der Werktätigen – das alles in eine wuchtige Architektur verpackt. Ersteres entsprach dem Vorbild der historischen Altstadt, Letzteres sollte in seiner Monumentalität eine einschüchternde Wirkung haben. Die Aufsätze am Dach zitieren die Giebel der Renaissance.

»Ich fühl mich so wohl in der Stahlstadt« (© Martin Zellhofer)
Auf einer langen Geraden radeln wir vom Hauptplatz zum Stahlwerk. Baubeginn der nach Wladimir Iljitsch Lenin benannten Lenin-Hütte war der 26. April 1950. 1977, am Höhepunkt seines Outputs, beschäftigte das Werk 38.000 Menschen und produzierte 6,7 Tonnen Millionen Stahl im Jahr – inklusive entsprechender Umweltverschmutzung. Die Anlage ist um ein Vielfaches größer als die historische Altstadt Krakaus. Das Bild zeigt eines der beiden palastähnlichen Verwaltungsgebäude des Werkes.

Almost Italy (© Martin Zellhofer)
Der wie ein Renaissanceschloss aussehende, von 1952 bis 1955 erbaute Komplex steht leer. Der schon äußerlich beeindruckende und detailreiche Bau ist im Inneren mit Kassettendecken und geschwungenen Holztreppen ausgestattet, Einblicke gibt es hier. Die Einheimischen nennen ihn auch Dogenpalast.

Form follows function, oder? (© Martin Zellhofer)
Zurück in der Stadt widmen wir uns den Details im Inneren mancher Gebäude. Wohl original erhalten ist diese Beleuchtung in einem Supermarkt am zentralen Platz.

(© Martin Zellhofer)

In der Zeitkapsel (© Martin Zellhofer)
Mit originaler Inneneinrichtung – hölzernen Budeln, Kassettendecke und imposanten Leuchtern – präsentiert sich das Kunsthandwerkgeschäft Cepelix.

Sozialistischer Realismus par excellence (© Martin Zellhofer)
Das ehemalige Kino Światowid, errichtet in den Jahren 1955 bis 1957, ist heute ein Museum. Drinnen sehen wir eine sehenswerte Ausstellung über den Stadtteil und das Leben im kommunistischen Polen.

Der Kalte Krieg (© Martin Zellhofer)
Im Bunker des ehemaligen Kinos. Nowa Huta, errichtet zur Zeit des Kalten Krieges, hatte über 250 Bunkeranlagen. Der Stadtteil wurde so geplant, dass er der möglicherweise angreifenden Nato den Vormarsch erschweren sollte.

Bildung, Kultur und Propaganda für das Volk (© Martin Zellhofer)
Das Teatr Ludowy (Volkstheater), errichtet von 1950 bis 1953.

2002 geschlossen (© Martin Zellhofer)
Das Kino Swit, erbaut in den Jahren 1951 bis 1953, in Betrieb bis 2002, heute ein Supermarkt. Im Inneren sind vor allem im Foyer Elemente des Kinos wie Säulen, Lüftungsgitter und Kronleuchter erhalten.

(© Martin Zellhofer)

Nationalgericht Pierogi (© Martin Zellhofer)
Das Restaurant Stylowa war einst eine von zwei eleganten Gaststätten des Stadtteils, hier gab es exquisiten Kognak und bulgarische Weine. Ein bisschen lebt hier noch die Vergangenheit: Die Beleuchtung ist original aus den 1950ern, eine kleine Lenin-Statue gibt es auch. Pierogi müssen sein – und sie sind hier deutlich günstiger als in der historischen Altstadt.

Blume aus dem Gemeindebau (© Martin Zellhofer)
Die Rückbesinnung auf die Renaissance konnte nur bei den ersten Bauten im Zentrum verwirklicht werden. Noch während der 1950er-Jahre vereinfachte sich aus Kostengründen die (Aus-)Gestaltung der Bauten. Diese wirken mit den Balkonen immer noch gefällig, sehen aber aus wie gewöhnliche Wohnbauten.

Der schwedische Block (© Martin Zellhofer)
Auch das ist Nowa Huta. Der insgesamt 200 Meter lange Schwedische Block entstand von 1956 bis 1959. Er verdankt seinen Namen dem Beton, der unter schwedischer Lizenz hergestellt wurde, steht symbolhaft für den Sprung in die Moderne und war der erste Plattenbau des Landes.

Der französische Block … (© Martin Zellhofer)
… stammt ebenfalls aus den späten 1950ern, ist 74 Meter breit und acht Stöcke hoch. Obwohl alle bisher gezeigten Bauten innerhalb von nur zehn Jahren entstanden sind, scheinen sie aus verschiedenen Epochen zu stammen.

Kiosk (© Martin Zellhofer)
Der Stadtteil ist durchzogen von solch kleinen Geschäften. Sie bieten immer noch Zigaretten, Zeitungen, Essen, Getränke – und Leerstand.

Hintaus (© Martin Zellhofer)
Abseits der Verkehrsachsen, in den Innenhöfen und zwischen den Wohnblöcken, ist es erstaunlich ruhig. Die Garagen sind wohl ebenfalls noch Originale aus der Zeit, in der die Motorisierung auch im Osten um sich griff.

(© Martin Zellhofer)

Jedziemy autostopem (© Martin Zellhofer)
Sicher bin ich mir nicht, aber der grüne Kombi dürfte ein Exemplar des ab 1971 gebauten WAS-2102 der russischen Firma Awtowas sein. Bei uns kennt man die Marke unter dem Namen Lada. Der rote Wagen ist ein ab 1975 gefertigter Polski Fiat 126p. Jedziemy autostopem?

Die Kirche der Mutter Gottes, der Königin von Polen – Arche des Herrn (© Martin Zellhofer)
Idealerweise hätte die neue polnische Gesellschaft klassenlos und atheistsch sein sollen, weswegen Nowa Huta zumindest ohne Kirchenneubau vorgesehen war (denn es gab und gibt in der Gegend eine bis ins Mittelalter zurückreichende Zisterzienserabtei). Doch die Bevölkerung kämpfte – sprichwörtlich – für ihre Kirche und 1969 konnte der Bau beginnen. Die Fertigstellung dauerte bis 1977.

Der ursprüngliche Bebauungsplan (© Martin Zellhofer)
Der Bebauungsplan aus dem Jahr 1951 ist nie zur Gänze verwirklicht worden, die untersten, südlichen Blöcke im Bild wurden zum Beispiel nicht gebaut. Was der Plan erkennen lässt, sind die Hauptachsen der Stadt (unten am Bildrand die Ost-West-Achse, quer durch eine Nord-Süd-Achse und zwei weitere vom Plac Centralny im. Ronalda Reagana ausgehende Hauptstraßen), die die Stadt in die Wohnquartiere A bis D teilen.

An der Nord-Süd-Achse (© Martin Zellhofer)
Ein letzter Blick … die Rosenallee im Herzen Nowa Hutas. Historische Fotos belegen, dass es hier nicht immer so grün war – und dass zwischen den beiden Häusern eine große Lenin-Statue stand. Die war 1979 Ziel eines erfolglosen Sprengstoffanschlags, nach der Wende 1989 erfolgte die Abtragung.
Mehr zum Thema?
• »Architekturführer Krakau« von Dom Publishers
• krakow.travel, auch auf Deutsch, auch ausführlich über Nowa Huta
• »Krakau« aus dem Michael Müller Verlag – der zuverlässige Begleiter