In »Dance of Values« begibt sich die Medienwissenschaftlerin Elena Vogman auf Sergei Eisensteins Spuren und geht der Frage nach, wie sich der sowjetische Filmemacher dem epochalen Werk »Das Kapital« von Karl Marx durch das Medium Film annäherte.
Ausgangspunkt des Buches sind circa 500 Seiten unveröffentlichten Materials aus dem Staatsarchiv für Kunst und Literatur in Moskau, das Elena Vogman aufgearbeitet hat. Es handelt sich dabei um eine Art Zettelkasten, den Sergei Eisenstein über zwei Jahre hinweg entworfen hat. In Vogmans Buch wird er auf eine nachvollziehbare und spannende Art lesbar gemacht, ihre Aufarbeitung lässt dabei ein Filmskript entstehen.
Die Notizen, Zeichnungen und ausgeschnittenen Zeitungsartikel belegen Eisensteins Auseinandersetzung mit den Ideen Karl Marx’, dienen aber auch als Abbild von Eisensteins Eindrücken der späten 1920er-Jahre und vom kapitalistischen Wirtschaftssystem im Allgemeinen. Eisenstein entwarf eine eigene Theorie die er Cinedialectic oder die dialektische Montage nannte, eine Methode, bei der zwei unzusammenhängende Bilderfolgen zusammengefügt werden und dann ein unsichtbares drittes Bild ergeben, sodass die Montage auch als Form der Bedeutungsproduktion gelesen wird.
Revolutionär neue Kinoform
Diese Idee bindet die Zuseher*innen in das Kino ein und ist somit eine revolutionär neue Kinoform, die am Fortschreiten des Denkens auch nach dem Film bzw. der Filmsequenz arbeitet. In »Dance of Values« wird die Leser*innenschaft in Eisensteins Denkmethode eingeführt. Sie kann nicht nur den Ideen des Filmemachers folgen, sondern diese auch in einem größeren Zusammenhang lesen.
Eisenstein beschrieb seine Methode als »a visual instruction on the dialectical method« und dieses Buch erforscht einmal mehr deren Bedeutung. Es zeigt auf, wie stark die kulturelle und künstlerische Produktion seiner Zeit Eisensteins Ideen geprägt haben – von Joyce bis zur Reklame – und wie er diese mit Karl Marx in Zusammenhang bringt. Er versucht durch die Zusammenführung von Bildern und Worten die Grundideen von Marx lesbar zu machen, ohne diese direkt zu zitieren.
Ein besonders aussagekräftiges Bildbeispiel ist das Cover des Buches, auf dem eine Werbereklame zu sehen ist: lebende Beine, die als Schaufensterreklame für ein Strumpfgeschäft Charleston-Sprünge machen müssen. Der fragmentierte Körper, der wie ein Bildausschnitt eingesetzt wird, funktioniert hier als lebendes Bild, das den Blick der Betrachtenden einfangen soll. Die eingesperrten Beine sollen also durch Bewegung die Aufmerksamkeit der Betrachtenden erlangen und wiederholen quasi immer wieder dieselbe Filmsequenz. Nach Eisensteins Idee kann dieses Bild als Gedankengang verstanden werden.
Beitrag zur Kunstgeschichte
So analysiert Vogman in ihrem Buch nicht nur den theoretischen Parcours des Filmemachers, sondern lässt die Notizen und Zeitungsauschnitte in ihrem Buch als Protagonist*innen auftreten. Diese sind Träger*nnen der Marx’schen Konzepte, auf denen das Filmprojekt beruht, und werden als solche in »Dance of Values« untersucht und lesbar gemacht.
Vogman erläutert außerdem die zahlreichen Zitate und Verbindungen zwischen Eisenstein und den Diskursen seiner Zeit – von Meyerhold bis Georges Bataille. Somit ist das Buch auch ein Beitrag zur Kunstgeschichte des frühen 20. Jahrhunderts. »Dance of Values« illustriert das Kino als Denkform und bietet der Leser*innenschaft neue Einblicke in das Potenzial des frühen Kinos des 20. Jahrhunderts. Filmtheorie wird hier lebendig gemacht: ein Buch, das inspiriert und Gedanken tanzen lässt; ein Buch, das gelesen werden sollte.
»Dance of Values: Sergei Eisenstein’s Capital Project« von Elena Vogman ist bei Diophanes erschienen.