»Das Fahrrad ist Medium für Klimagerechtigkeit« – Medienwissenschaftlerin Julia Bee im Interview

Was kann Medienwissenschaft gegen die Klimakatastrophe tun? Das ist eine der zentralen Fragen, die die Medienwissenschaftlerin Julia Bee derzeit umtreiben. Warum das Fahrrad hier Antworten liefern kann, erklärt sie in unserem Interview.

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Seit letztem Jahr ist Julia Bee Professorin für Medien­ästhetik an der Universität Siegen, sie ist dort unter anderem in den Bereichen Gender Media Studies, Rassismus­kritik und Post­kolonialismus aktiv. Seit einiger Zeit dreht sich bei ihr jedoch viel um einen Apparat, den viele nicht sofort mit Medien verbinden: das Fahrrad. Zum einen, weil sie es für, wie sie sagt, einen »einfachen Ausweg aus einer komplex-verfahrenen Situation« hält, nämlich jener, von der auto­zentrierten Stadt und den damit einher­gehenden Mobilitäts­problemen loszukommen. Zum anderen, weil ihrer Ansicht nach die »Fahrrad­medien« wissen­schaftlich so einiges zu bieten haben.

Im Feld Medien­wissenschaft ist das Fahrrad nicht unbedingt der nahe­liegendste Gegen­stand. Inwiefern ist das Fahrrad medial interessant?

Julia Bee: Zunächst interessieren mich Darstellungen und Inszenierungen von Fahrrad und Fahrrad­fahren in audio­visuellen Medien. Also: Wie erfahren wir überhaupt über das Fahrrad­fahren? Zum Beispiel in populären Filmen, Netflix-Serien und so weiter. Wie prägt das unsere Einstellung dazu? Der Normalität des Auto­fahrens sind wir ja die ganze Zeit ausgesetzt. Das Fahrrad ist da unter­repräsentiert und stark kindlich besetzt. Social-Media-Bewegungen hingegen identifizieren sich zunehmend über das Fahrrad. Dort hat das Fahrrad eine bestimmte Medialität als Protest­zeichnen gegen die Kapitalisierung der Städte und für inter­sektionale Zugänge zur Stadt. Etwa: Wie eignen wir uns auch die Stadt durch das Fahrrad wieder an? Wie kann ich mich als FLINTA* ohne Gefahr von Angriffen in der Stadt bewegen? Wie fahren wir zusammen Fahrrad? Die Verhandlung dieser Fragen findet sowohl in audio­visuellen Medien als auch auf der Straße statt.

Ist das Fahrrad selbst auch ein Medium?

Herbert Schwaab nennt das Fahrrad ein »offenes Medium«. Es hat keine Innen-Außen-Grenzen wie Autos – also keine Türen, keine Scheiben, keine Karosserie. Das Fahrrad ist nach außen offen, offen zu anderen Menschen. Damit hat es eine kommunikative, vergesell­schaftende Funktion. Die Soziologin Rachel Aldred nennt das »cycling citizenship«. Damit meint sie die Möglich­keit, im öffent­lichen Raum anderen Menschen zu begegnen und sich mit ihnen zu ver­ständigen. Ohne diese Blech­karosserie rund­herum. Dieses Weniger, im Gegensatz zum Auto, im Gegensatz zu technischeren Medien, kann man eigentlich zu einem Mehr machen. Nicht nur in Bezug auf Kommunikation im öffent­lichen Raum, sondern auch, was Reparaturen oder Basteln angeht.

Durch seine technische Einfachheit ermöglicht es also neue Dinge?

Ja. Aber ganz so puristisch und unmedialisiert, wie man denken könnte, ist das Fahrrad nicht. Es ist nicht nur als E-Bike hoch aufgerüstet, sondern auch mit zahl­reichen Funktionen verbunden. Intelligentes Licht, intelligenter Helm, Sicherheits­funktionen am Schloss, Apps, die Körper­funktionen messen, und sogar – aktuell noch in der Testphase – Apps, die sich mit smarter Infra­struktur wie Ampeln verbinden können. Das Fahrrad ist damit auch ein Medium in der Ent­wicklung hin zur smarten Stadt.

Aber vielleicht auch zur über­wachten Stadt? Mir fallen da sofort Fahrrad­­lieferant*innen ein. Für die ist das Fahrrad ja einerseits Arbeits­mittel, aber anderer­seits gerade durch die digitale Einbindung quasi auch Arbeits­kontrolleur.

Das Fahrrad war und ist für viele Menschen eine Utopie als günstiges Fort­bewegungs­mittel. Aber genauso gut kann es auch in dystopischen Zusammen­hängen fungieren. Da kommen wir auf den Begriff des offenen Mediums zurück. Schluss­endlich spüren aber die Menschen, die durch diese Gig-Economy ausgebeutet werden, auch die infra­strukturellen Probleme, die insgesamt unsichere Situation für Fahrrad­fahrende stärker. Und es sind verschärfend oft rassifizierte Menschen, die diese Berufe ausüben. Bei E-Bikes – bei denen ich auch durchaus skeptisch bin – denke ich vor allem an die Kuriere und daran, wie deren Leben damit einfacher wird. Im End­effekt ist jedes Fahrrad gut, das ein Auto ersetzt – egal welcher Aus­prägung. Wenn all diese Lieferant*innen jetzt noch mit Autos unterwegs wären, wäre das ja das totale Desaster.

Du forscht auch zum Thema Fahrrad­aktivismus. Wie unter­scheidet sich der von anderen aktivistischen Formen?

Seit Corona gibt es verstärkt soziale Bewegungen, die das Fahrrad als Demo­medium nutzen. Das ist allerdings kein Zufall, weil Krisen, die mit Verteilungs­gerechtigkeit zu tun haben, durch das Fahrrad gut symbolisiert werden. Denn, sich mit dem Fahrrad öffentlichen Raum anzueignen, ist ein Moment der utopischen Umverteilung vom Raum einer Stadt, die um das Auto herum gebaut ist. Autos entnehmen öffentlichen Raum. Sie privatisieren ihn strukturell. Das ist keine Anschuldigung einzelner Menschen, sondern es ist ein strukturelles Problem. Öffentlicher Parkraum ist zu günstig, aber gleichzeitig merkwürdig selbst­verständlich. Riesige Auto­konzerne stellen ein Produkt her und ich darf dieses Produkt dann im öffentlichen Raum abstellen. Mit dem Fahrrad holen wir uns diesen Raum zurück. Aber wir denken diesen öffentlichen Raum neu als Begegnungsraum.

Was ist deiner Meinung nach das Potenzial des Fahrrads für politische Forderungen wie die autofreie Stadt?

Eigentlich ermöglicht das Fahrrad­fahren erst die autofreie Stadt. Natürlich ist das Fahrrad immer im Verbund mit anderen Verkehrs­mitteln zu denken. Wien hat ja z. B. ein wunderbares Nahverkehrsnetz in vielen Teilen der Stadt. Nur im Verbund mit so was kann das Fahrrad­fahren funktionieren und überhaupt die Aufwertung vom kommunitären Raum und von kommunitären Verkehrs­mittel. Eigentlich sollte jeder Mensch vom Staat für ganz wenig Geld ein Fahrrad bekommen und diese Fahrräder müssen sicher sein und gut aufbewahrt werden. Dann ändert sich auch der Zugang zur Infra­struktur und zu allem, was damit zu tun hat. Anderer­seits ermöglicht die autofreie Stadt aber auch ein sichereres Fahren, ein bequemeres Fahren. Die ganze Stadt wäre eine andere, und ich glaube die Menschen müssen das erleben, um zu wissen, was das heißt. Dieser Verteilungs­kampf um den sehr begrenzten Raum, würde sich extrem entspannen und damit auch eine andere Stimmung in die Stadt kommen. Jüngere Menschen, ältere Menschen, unter­schiedliche Körper könnten sich ganz anders bewegen. Menschen, die sich heute gar nicht trauen, Fahrrad zu fahren, würden Fahrrad fahren. Aber wir fordern die autofreie Stadt ja nicht für das Fahrrad­fahren. Wir fordern sie für die Menschen, die wegen Feinstaub an Asthma und anderen Lungen­krankheiten erkranken. Und wir fordern sie nicht zuletzt für die Klima­gerechtigkeit. Das ist ja kein Selbst­zweck für das Fahrrad, sondern das Fahrrad ist eben Medium für Klima­gerechtigkeit.

Gibt es auch potenzielle Schlag­löcher für diese Utopie?

Ich war lange Zeit noch sehr viel mehr vom utopischen Potenzial des Fahrrad­fahrens überzeugt. Als Fußgängerin mache ich aber auch die Erfahrung, dass manche Menschen auch auf dem Fahrrad Rüpel sind. Die nehmen sich überall Raum, egal mit welchem Verkehrs­mittel. Das Auto ermöglicht ihnen allerdings noch gewalt­tätiger, noch raum­greifender zu sein. Ich will Fehl­verhalten am Fahrrad jetzt gar nicht schön­reden, aber wenn sich die Lage insgesamt entspannen würde, entspannt sich diese Situation ver­mutlich auch.

Noch ein Schlusswort?

Bildet Banden und fahrt Fahrrad!

Julia Bee hat 2022 gemeinsam mit Ulrike Bergermann, Linda Keck, Sarah Sander, Herbert Schwaab, Markus Stauff und Franzi Wagner den Sammel­band »Fahrrad­utopien: Medien, Ästhetiken und Aktivismen« heraus­gegeben. Der Band ist über die Online-Publikations­plattform Meson Press frei verfügbar.

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