Am zweiten Tag des Dokumentarfilmfestivals Ethnocineca – dem ersten mit vollem Programm – ging es um Menschlichkeit, Macht und Freiheit. Auch einige Filmschaffende waren dabei und bereicherten die Vorführungen mit spannenden Details zur Entstehung ihrer Filme.
Freitag, 13. Mai
Die filmische Kost am Ethnocineca ist nicht immer leicht. Der zweite Tag des Festivals beginnt emotional und mit sehr mitreißenden, aber auch aufwühlenden Bildern, die lange nachhallen. Die Dokumentation »Mr. Tang« von Xia Su und Hongyu Su, die am Festival Weltpremiere feiert, zeichnet ein emotionales Porträt des im Filmtitel genannten Mannes und seiner Familie. Es geht um Freiheit und Widerstand, dargestellt in bildsprachlichen Gegensätzen: ruhig und laut, Freiheit und Gefangenschaft, neu und alt.
Herr Tang ist einer der letzten Bewohner*innen eines Stadtviertels, das im Zuge der »Revitalisierung der alten Stadt« abgerissen werden soll. Als wäre der Verlust des eigenen Hauses, in dem bereits Generationen seiner Familie lebten, nicht besorgniserregend genug, verschlechtert sich auch der Gesundheitszustand seiner an Alzheimer erkrankten Frau drastisch.
Einfühlsam erzählt
Der Film beginnt mit viel Leichtigkeit, doch wird die Erzählweise bald ernster. Schnell entwickelt man Sympathien für den Protagonisten und wird in das Geschehen gezogen. Die Stärke der Geschichte liegt unter anderem in der einfühlsamen Erzählweise und Identifizierbarkeit durch die realitätsnahe und individuumsbetonte Darstellung. »Mr. Tang« bedient sich statt vieler Worte eher der Bilder, die geschickt akzentuiert eingesetzt durch die Erzählung führen. Fürs Publikum gleicht die Darstellung der mit Bedacht erzählten Geschichte einer Achterbahnfahrt der Gefühle: Die Reaktionen im Saal schwanken zwischen vorsichtigem Lachen und leisen mitfühlenden Tränen. Das Schicksal des sympathischen Protagonisten bewegt nachhaltig – auch nach dem Abspann bleibt es im Kino still.
Während die Gedanken noch in der Kinoluft weilen, geht es ohne Unterbrechung weiter im Programm.
Nach dem Filmgespräch mit dem Filmemacher Yehuda Sharim am Nachmittag feiert der für den Excellence in Visual Anthropology Award (EVA) nominierte Film »Letters2Maybe« im Großen Saal des Votiv Kinos mit anschließendem Gespräch seine Österreichpremiere. Der Film führt die Zuschauer*innen nach Houston, Texas, und befasst sich mit den Schicksalen verschiedener Migrant*innen und wie sie ihre Situation mit all ihren Unsicherheiten und der Realität des US-amerikanischen Einwanderungssystems reflektieren. Dabei schafft es Sharim, den Protagonist*innen eine Plattform zu bieten, ohne sich fremdbeschreibender Worte zu bedienen.
Im Austausch mit den Menschen
Im Gegensatz zu »Mr. Tang« lebt »Letters2Maybe« vom gesprochenen Wort. Die Stimmung im Saal ist eher unruhig, es herrscht ungewöhnlich viel Bewegung. Das Ende des Films lässt das Publikum mit vielen Fragen zurück – was sich auch im anschließenden Filmgespräch zeigt. Sharim erzählt auf Nachfrage eines Zuschauers, dass ein Film nicht nur durch die Linse der Kamera entstehe, sondern im ganzen Prozess, im Austausch mit den Menschen und den Beziehungen zu ihnen. »I try to create that place, where we constantly listen«, beschreibt er den Grundgedanken, der sich durch seinen Film zieht.
Den Abschluss des zweiten Tages bildet der aufrüttelnde, aber schonungslos ehrliche und für den International Documentary Award nominierte Film »Little Palestine, Diary of a Siege« von Abdallah Al-Khatib. Die Bilder zeigen die teilweise unwirklich scheinende Realität aus dem zwischen 2013 und 2015 von Soldat*innen des Assad-Regimes belagerten Jarmuk, einem seit 1948 von palästinensischen Geflüchteten bewohnten Stadtteil von Damaskus. Nach Kämpfen zwischen der Freien Syrischen Armee und Assads Truppen wurden die Menschen an diesem Ort ihrem Schicksal überlassen.
Wut und Hoffnung
Wie ein roter Faden ziehen sich die Leichentransporte durch den Film und stehen im Kontrast zur Hoffnung der Kinder, wie auch zur Wut der älteren Bewohner*innen von Jarmuk. Der Film ist ein Tagebuch des Leids und einer nur schwer zu ertragenden Grausamkeit, festgehalten durch die Linse Al-Khatibs, welcher selbst zu der Zeit in Jarmuk lebte und ursprünglich keinen Film aus den Aufnahmen machen wollte.
Gebannt verfolgen die Zuschauer*innen im Kinosaal das Geschehen auf der Leinwand. Der lange Applaus durchbricht die Stille, welche sich während des Films ausgebreitet hat, als Abdallah Al-Khatib sich zum Filmgespräch vor der Leinwand positioniert. Fast unwirklich wirkt seine angenehme und entspannte Ausstrahlung nach diesen mitunter so schonungslosen, lauten und aufwühlenden Szenen.
Es ist mittlerweile spät geworden und so neigt sich der zweite Tag der Ethnocineca mit all diesen emotionsreichen Eindrücken dem Ende zu.
Das Festival Ethnocineca zeigt noch bis 19. Mai 2022 internationalen ethnografischen Dokumentarfilm im Votiv Kino sowie im De France.
Dieser Artikel entstand im Rahmen eines Schreibstipendiums, das die Ethnocineca gemeinsam mit The Gap vergeben hat. Weitere Einträge in unser Ethnocineca-Festivaltagebuch findet ihr hier.