Festivaltagebuch Ethnocineca 2022, Tag 4: Familiengeschichten und Erzählungen vom Leben und vom Tod

Am vierten Tag des Dokumentar­film­festivals Ethnocineca ging es um Identität, zwischen­menschliche Geschichten, das Leben und den Tod. Filme­macher*innen zeigten die Geschichten ihrer eigenen Familien und die Bedeutung des Lebens, während eine Protagonistin die Toten ins Nachleben begleitete.

© »Eskape« von Neary Adeline Hay

Sonntag, 15. Mai

Passend zum Wochenende nutzt der Festival­tag bereits die frühen Stunden und startet zur Mittagszeit um 12 Uhr mit dem ersten Beitrag des Tages im Votiv Kino: »Eskape« – ein bewegender Film über Flucht und Identität, in dem die Filme­macherin Neary Adeline Hay die Flucht­geschichte ihrer Mutter und damit auch ihre eigene aufarbeitet.

Hays Mutter floh mit ihr im Säuglings­alter Anfang der 1980er-Jahre nach dem Sturz der Roten Khmer aus Kambodscha. Mehrfach dazu angehalten, ihre Tochter zu ihrem eigenen Schutz zurück­zulassen, wider­setzte sie sich und kämpfte sich durch nach Frankreich. Nicht viele Geflüchtete hatten das gleiche Glück. Die Bedeutungs­schwere einer solchen Flucht und was es mit einem Menschen macht, diese zu überleben, wird einem im Laufe des Filmes durch die vulnerable Erzähl­weise der Filme­macherin beklemmend bewusst.

Das Bild einer resilienten Frau

Die Stimme Hays im Hintergrund lässt die Zuschauer*innen an ihrer Gedanken­welt teilhaben und durch ihre Worte erahnen, welche Bedeutung die filmische Aufarbeitung ihrer Familien­geschichte für sie haben muss. Der Film durchbricht das lange Schweigen der Mutter, für die die Umstände der Flucht in der Vergangenheit bleiben sollten. Hay scheint die richtigen Fragen an den richtigen Orten zu stellen, und langsam zeichnet sich ein Bild einer resilienten Frau, die in ihrem Leben stets nach vorne blickt.

Durch den Dialog von Mutter und Tochter ist die Erzähl­weise des Films unglaublich intim und erreicht ihren Höhepunkt bei Nacht im Zweier­gespräch, an jenem Ort, an dem beide gemeinsam vor 40 Jahren eine neue Heimat fanden. Hays Mutter erzählt von ihren Erinnerungen an die Flucht. Die Geschichte bewegt, die Filme­macherin lässt die Zuschauer*innen sehr nah an sich und ihre eigene Gedanken­welt heran, was auch in den Bildern und Worten spürbar ist.

Der Film bedient sich stark bild­sprachlicher Elemente, welche auf eine beein­druckende Art und Weise eine Einheit mit dem gesprochenen Wort bilden. Während es bei Abspann im Saal noch ruhig ist, spricht der Applaus im Anschluss für sich.

© »The One Amongst the Shadows« von Sandra Luz López Barroso

Um 19 Uhr feierte der für den Excellence in Visual Anthropology Award nominierte Film »The One Amongst the Shadows – El compromise de las sombras« von Sandra Luz López Barroso seine Europa­premiere.

Die Protagonistin Lizbeth begleitet verstorbene Menschen mit Gebeten, Musik und Gesängen ins Nach­leben. Der Film zeigt die Toten­rituale und die Rolle der Protagonistin in diesen als Verbindung zwischen den Toten und den Lebenden in der Gemein­schaft. Gesang ist ein sich durch den gesamten Film ziehendes Element. Die Klänge sprechen für sich. Es sind Gebete und Worte des Glaubens, die die Bilder begleiten.

Teilhabe statt Verstehen

Der Film bedient sich in seiner Darstellung von Ritualen sehr klassischer ethno­grafischer Elemente. Dabei scheint das vorrangige Ziel nicht zu sein, das Geschehen als Zuschauer*in vollständig zu verstehen. Der Film suggeriert eher eine Teilhabe an dem, was passiert.

Das zeigt sich auch in den Reaktionen des Publikums: Nach der Vorführung entstehen umgehend Gespräche. Die vermehrt teil­nehmende und weniger erklärende Erzähl­weise des Films ist ungewohnt. Ein Besucher sagt, dass er sich erst im Film orientieren musste und erst im Laufe des Filmes in die Erzähl­weise hineinfand. Es sei ihm schwer gefallen zu erkennen, wohin der Film ihn führen wollte. Die Vor­stellung endet wieder in Applaus, der Film hat Neugierde und Interesse geweckt.

© »Soy Libre« von Laure Portier

Den Abschluss des Festivaltags bildet schließlich Laure Portiers Film »Soy Libre«, welcher für den International Documentary Award nominiert ist und an diesem Abend im Votivkino seine Österreich­premiere feiert. Der Film gibt einen tiefen Einblick in das Leben des Protagonisten Arnaud, der nach seiner Entlassung aus der Jugend­strafanstalt seinem gewaltigen Freiheits­drang nachgeht und Frankreich verlässt, um sich dann über Spanien bis nach Peru durch­zu­schlagen. Dabei wurde er über zehn Jahre von seiner Schwester, der Filme­macherin Laure Portier, begleitet, welche mit diesem Film ein starkes und intimes Porträt über die Suche nach sich selbst und nach einem Platz in der Gesell­schaft zeichnet.

Impulsiv und kämpferisch

Es ist nicht immer leicht, das Handeln von Arnaud nach­zu­voll­ziehen. Er wirkt impulsiv und kämpferisch, es wird deutlich, dass ihm das Leben bereits viele Hürden auf seinem Weg aufgezeigt hat. In vielen Momenten gibt er sich jedoch optimis­tisch. An einer Stelle des Filmes fragt Portier ihren Bruder, was sein Ziel im Leben sei. Die Antwort: »my goal is to face life« – eine Aussage, die sich retro­spektiv zentral im gesamten Film widerspiegelt.

Arnauds zur Schau getragene Gleichgültigkeit bröckelt in einem sehr intimen Moment: der Begegnung mit seiner Groß­mutter. Er zeigt sich verletzlich und die Zuschauer*innen bekommen einen Einblick in seine Träume und Wünsche im Leben.

Ein interessantes filmisches Stilmittel bringen die Dialoge zwischen dem Protagonisten und seiner filmenden Schwester mit sich. Die geschwis­ter­liche Beziehung schwingt mit und verwebt sich mit Arnauds Geschichte. Der Film regt zum Nach­denken an, man merkt den Zuschauenden an, dass Rede­bedarf besteht. Auch »Soy Libre« wird vom Publikum mit Applaus belohnt. Vor dem Kino entstehen Gespräche über den Film. Ein Besucher sagt, er sei sehr beein­druckt und müsse den Film nun erst einmal auf sich wirken lassen. Besonders berührt habe ihn Arnauds Charakter.

Das Festival Ethnocineca zeigt noch bis 19. Mai 2022 inter­nationalen ethno­grafischen Dokumentar­film im Votiv Kino sowie im De France.

Dieser Artikel entstand im Rahmen eines Schreibstipendiums, das die Ethnocineca gemeinsam mit The Gap vergeben hat. Weitere Einträge in unser Ethnocineca-Festivaltagebuch findet ihr hier.

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