Festivaltagebuch Ethnocineca 2022, Tag 6: Verliehene Awards, ausgezeichnete Filme

Am sechsten Tag des Dokumentar­film­festivals Ethnocineca wurde u. a. ein Film über das kanadische Einwanderungs­system gezeigt. Am Abend kamen bei der Award-Verleihung Involvierte und Interessierte für die Ehrung der prämierten Filme zusammen.

© »Resources« von Hubert Caron-Guay und Serge-Olivier Rondeau

Dienstag, 17. Mai

Einen mit Spannung erwarteten Höhepunkt der Festival­woche bildet die Award-Verleihung am Abend des sechsten Festival­tages. Außerdem sind natürlich auch weitere Filme im Programm.

Große Themen, keine Annäherung

Um 17 Uhr feiert beispiels­weise »Resources« von Hubert Caron-Guay und Serge-Olivier Rondeau seine Österreich­premiere im Votiv Kino. Die Beschreibung des Films liest sich viel­ver­sprechend. Er thematisiert die kanadische Einwanderungs­politik und wie unter dem Deckmantel einer menschen­freundlichen Asylpolitik Migrant*innen ausge­beutet werden. Die einge­wanderten Menschen berichten von ihren Erfahrungen aus der Heimat und ihren Beweg­gründen, nach Kanada zu migrieren. Ein zweiter Erzähl­strang porträtiert die Fleisch­wirtschaft durch die filmische Darstellung von überfüllten Schweine- und Kuhställen.

Wichtige, große Themen sind das – leider wird ihnen »Resources« nicht wirklich gerecht. Es wird nicht ganz klar, was der Film aussagen möchte. Die zwei Erzähl­stränge laufen neben­einander her, finden dabei keine erwartete Annäherung. Nur der Filmtitel lässt die Intention vermuten, die hier zugrunde gelegen sein könnte. Nach Ende des Films – einige Zuschauer*innen verlassen den Saal bereits während des Abspanns – machen sich teils ratlose Gespräche breit. Der seltene Fall, dass eine Ethnocineca-Film die hohen Erwartungen nicht erfüllt.

Preise, Preise, Preise

Um 20 Uhr ist es dann so weit: der Höhe­punkt des Abends. Juror*innen, Unter­stützer*innen und Interessierte sowie einige Filme­macher*innen finden sich im Votiv Kino für die Awards-Verleihung ein. Die Stimmung ist feierlich und familiär. Verliehen werden Aus­zeichnungen in fünf verschiedenen Kategorien, die mit einem Preisgeld von 500 Euro für Kurzfilme und 1.000 Euro für Langfilme dotiert sind.

Die erste ausgezeichnete Dokumentation des Abends – sie erhält den Austrian Documentary Award (ADA) – ist »Uncomfortably Comfortable« von Maria Petschnig. Der Film wurde in New York City gedreht und setzt sich mit Wohnungs­losigkeit und Rassismus auseinander, mit den Auswir­kungen von Inhaf­tierung und Traumata, aber auch mit dem Thema Freund­schaft. Dafür begleitete die Filme­macherin den Protago­nisten Marc ein Jahr in seinem Leben in frei­williger Obdach­losigkeit. In ihrer Dankes­rede spricht sie über ihre Beweg­gründe, diesen Film zu verwirklichen. Die Stadt sei ein Ort des Paradoxen: Überfluss und Reichtum seien oft nur einen Block entfernt von Armut und einem Leben am Existenz­minimum. Die Ungleichheit der Bevölkerung sei dabei alltäg­lich beobachtbar.

Maria Petschnig (»Uncomfortably Comfortable«) bei ihrer Dankesrede (Foto: Deborah Sie)

Der zweite Preis geht an »In Flow of Words« von Eliane Esther Bots. Die Dokumen­tation wird mit dem International Shorts Award (ISA) ausgezeichnet und direkt im Anschluss gezeigt. Er gibt starke private Einblicke in die Gedanken- und Arbeitswelt dreier Dolmetscher*innen des Internationalen Straf­gerichts­hofs für das ehemalige Jugoslawien in Den Haag. Als Vermittler*innen ist es ihre Aufgabe, sachlich und unvorein­genommen als neutrale Instanz zwischen den Prozess­beteiligten zu stehen. Dabei bekommen die Zuschau­er*innen tiefe Einblicke in die Gefühlswelt der Protago­nist*innen, welche selbst in Jugoslawien geboren wurden und den Krieg vor Ort miterlebten. Anders als es im Gerichts­saal der Fall ist, stellt die Dokumen­tation diese Menschen in den Mittelpunkt und zeigt durch sie Perspektiven, welche der Welt normaler­weise verborgen bleiben.

© »In Flow of Words« von Eliane Esther Bots

Die Erzählungen über die grausamen Verbrechen sind schwer zu ertragen. Sie lassen erahnen, welche emotionalen und psychischen Auswir­kungen die stetige und ungefilterte Konfrontation damit auf die Dolmetscher*innen haben muss. Bots verwendet mit Symbolik durch­zogene Bild­sprache, die mit dem gesprochenen Wort zusammenfindet.

Populismus und Propaganda

Im Anschluss daran wird der International Documentary Award (IDA) verliehen. Trotz der bedrückenden Impressionen aus dem voran­gegan­genen Kurzfilm löst sich die Stimmung im Saal rasch wieder und die Besucher*innen erwarten gespannt die Verkündung der Preisträger*innen: Svetlana Rodina und Laurent Stoop konnten die Jury mit ihrem Film »Ostrov – Lost Island« überzeugen. Die beiden Filme­macher*innen begleiteten die Be­woh­ner*innen der Insel Ostrov, die der russische Staat nach dem Zusammen­bruch der Sowjet­union sich selbst überlassen hat. Aufgearbeitet wird, wie ein Staat durch Populismus und Propaganda sogar von ihm vernach­lässigte Menschen an sich binden kann.

Die Jury für den International Documentary Award bei der Preisverleihung (Foto: Deborah Sie)

Als Nächstes wird der Ethnocineca Student Shorts Award (ESSA) – ein Publikums­preis – an »Sealand« von Paul Scholten, Conrad Winkler und Matthäus Wörle verliehen. Auch dieser Film wird den Besucher*innen der Veran­staltung direkt im Anschluss gezeigt. Er bietet Einblicke hinter die Kulissen der Verschiffung von Gütern auf den Welt­meeren und porträtiert die Menschen, die für den reibungs­losen Ablauf des globalisierten Waren­verkehrs sorgen.

© »Sealand« von Paul Scholten, Conrad Winkler und Matthäus Wörle

Im Zentrum von »Sealand« steht das gesprochene Wort, während die Bilder eher als Kulisse dienen. Die auf den Schiffen beschäftigten Arbeiter sind meist von den Philippinen. Sie berichten – in Anbetracht von schwierigen Arbeits­bedingungen, Heimweh und Rassismus – von ihren Erlebnissen und aus ihrer Gedanken­welt. Die Art und Weise, wie der Film ihre Stimmen im Vorder­grund hält und dabei subtile aber deutliche Kritik an diesem System der Ausbeutung übt, beeindruckt. Ein eindring­liches Stilmittel der Erzähl­weise ist dabei die Verwendung des Tons, der die Atmosphäre des Lebens auf dem Schiff einfängt und den Zuschauer*innen vermittelt.

ESSA-Preisträger Conrad Winkler (links) und Matthäus Wörle (Foto: Deborah Sie)

Nachdem der Applaus für »Sealand« verhallt ist, wird der letzte Award des Abends verliehen: »Perpetual Person – Persona Perpetua« von Javier Bellido Valdivia erhält den Excellence Visual Anthropology Award (EVA). Der Film porträtiert den Alltag der an Alzheimer erkrankten Großmutter des Filme­machers. Die Jury lobt die Darstellung der Intimität der zwischen­menschlichen Beziehung, die gezeigten Bilder sowie die sensible Erzählweise.

Das Festival Ethnocineca zeigt noch bis 19. Mai 2022 inter­nationalen ethno­grafischen Dokumentar­film im Votiv Kino sowie im De France.

Dieser Artikel entstand im Rahmen eines Schreibstipendiums, das die Ethnocineca gemeinsam mit The Gap vergeben hat. Weitere Einträge in unser Ethnocineca-Festivaltagebuch findet ihr hier.

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