Am vierten Tag des Dokumentarfilmfestivals Ethnocineca ging es um Identität, zwischenmenschliche Geschichten, das Leben und den Tod. Filmemacher*innen zeigten die Geschichten ihrer eigenen Familien und die Bedeutung des Lebens, während eine Protagonistin die Toten ins Nachleben begleitete.
Sonntag, 15. Mai
Passend zum Wochenende nutzt der Festivaltag bereits die frühen Stunden und startet zur Mittagszeit um 12 Uhr mit dem ersten Beitrag des Tages im Votiv Kino: »Eskape« – ein bewegender Film über Flucht und Identität, in dem die Filmemacherin Neary Adeline Hay die Fluchtgeschichte ihrer Mutter und damit auch ihre eigene aufarbeitet.
Hays Mutter floh mit ihr im Säuglingsalter Anfang der 1980er-Jahre nach dem Sturz der Roten Khmer aus Kambodscha. Mehrfach dazu angehalten, ihre Tochter zu ihrem eigenen Schutz zurückzulassen, widersetzte sie sich und kämpfte sich durch nach Frankreich. Nicht viele Geflüchtete hatten das gleiche Glück. Die Bedeutungsschwere einer solchen Flucht und was es mit einem Menschen macht, diese zu überleben, wird einem im Laufe des Filmes durch die vulnerable Erzählweise der Filmemacherin beklemmend bewusst.
Das Bild einer resilienten Frau
Die Stimme Hays im Hintergrund lässt die Zuschauer*innen an ihrer Gedankenwelt teilhaben und durch ihre Worte erahnen, welche Bedeutung die filmische Aufarbeitung ihrer Familiengeschichte für sie haben muss. Der Film durchbricht das lange Schweigen der Mutter, für die die Umstände der Flucht in der Vergangenheit bleiben sollten. Hay scheint die richtigen Fragen an den richtigen Orten zu stellen, und langsam zeichnet sich ein Bild einer resilienten Frau, die in ihrem Leben stets nach vorne blickt.
Durch den Dialog von Mutter und Tochter ist die Erzählweise des Films unglaublich intim und erreicht ihren Höhepunkt bei Nacht im Zweiergespräch, an jenem Ort, an dem beide gemeinsam vor 40 Jahren eine neue Heimat fanden. Hays Mutter erzählt von ihren Erinnerungen an die Flucht. Die Geschichte bewegt, die Filmemacherin lässt die Zuschauer*innen sehr nah an sich und ihre eigene Gedankenwelt heran, was auch in den Bildern und Worten spürbar ist.
Der Film bedient sich stark bildsprachlicher Elemente, welche auf eine beeindruckende Art und Weise eine Einheit mit dem gesprochenen Wort bilden. Während es bei Abspann im Saal noch ruhig ist, spricht der Applaus im Anschluss für sich.
Um 19 Uhr feierte der für den Excellence in Visual Anthropology Award nominierte Film »The One Amongst the Shadows – El compromise de las sombras« von Sandra Luz López Barroso seine Europapremiere.
Die Protagonistin Lizbeth begleitet verstorbene Menschen mit Gebeten, Musik und Gesängen ins Nachleben. Der Film zeigt die Totenrituale und die Rolle der Protagonistin in diesen als Verbindung zwischen den Toten und den Lebenden in der Gemeinschaft. Gesang ist ein sich durch den gesamten Film ziehendes Element. Die Klänge sprechen für sich. Es sind Gebete und Worte des Glaubens, die die Bilder begleiten.
Teilhabe statt Verstehen
Der Film bedient sich in seiner Darstellung von Ritualen sehr klassischer ethnografischer Elemente. Dabei scheint das vorrangige Ziel nicht zu sein, das Geschehen als Zuschauer*in vollständig zu verstehen. Der Film suggeriert eher eine Teilhabe an dem, was passiert.
Das zeigt sich auch in den Reaktionen des Publikums: Nach der Vorführung entstehen umgehend Gespräche. Die vermehrt teilnehmende und weniger erklärende Erzählweise des Films ist ungewohnt. Ein Besucher sagt, dass er sich erst im Film orientieren musste und erst im Laufe des Filmes in die Erzählweise hineinfand. Es sei ihm schwer gefallen zu erkennen, wohin der Film ihn führen wollte. Die Vorstellung endet wieder in Applaus, der Film hat Neugierde und Interesse geweckt.
Den Abschluss des Festivaltags bildet schließlich Laure Portiers Film »Soy Libre«, welcher für den International Documentary Award nominiert ist und an diesem Abend im Votivkino seine Österreichpremiere feiert. Der Film gibt einen tiefen Einblick in das Leben des Protagonisten Arnaud, der nach seiner Entlassung aus der Jugendstrafanstalt seinem gewaltigen Freiheitsdrang nachgeht und Frankreich verlässt, um sich dann über Spanien bis nach Peru durchzuschlagen. Dabei wurde er über zehn Jahre von seiner Schwester, der Filmemacherin Laure Portier, begleitet, welche mit diesem Film ein starkes und intimes Porträt über die Suche nach sich selbst und nach einem Platz in der Gesellschaft zeichnet.
Impulsiv und kämpferisch
Es ist nicht immer leicht, das Handeln von Arnaud nachzuvollziehen. Er wirkt impulsiv und kämpferisch, es wird deutlich, dass ihm das Leben bereits viele Hürden auf seinem Weg aufgezeigt hat. In vielen Momenten gibt er sich jedoch optimistisch. An einer Stelle des Filmes fragt Portier ihren Bruder, was sein Ziel im Leben sei. Die Antwort: »my goal is to face life« – eine Aussage, die sich retrospektiv zentral im gesamten Film widerspiegelt.
Arnauds zur Schau getragene Gleichgültigkeit bröckelt in einem sehr intimen Moment: der Begegnung mit seiner Großmutter. Er zeigt sich verletzlich und die Zuschauer*innen bekommen einen Einblick in seine Träume und Wünsche im Leben.
Ein interessantes filmisches Stilmittel bringen die Dialoge zwischen dem Protagonisten und seiner filmenden Schwester mit sich. Die geschwisterliche Beziehung schwingt mit und verwebt sich mit Arnauds Geschichte. Der Film regt zum Nachdenken an, man merkt den Zuschauenden an, dass Redebedarf besteht. Auch »Soy Libre« wird vom Publikum mit Applaus belohnt. Vor dem Kino entstehen Gespräche über den Film. Ein Besucher sagt, er sei sehr beeindruckt und müsse den Film nun erst einmal auf sich wirken lassen. Besonders berührt habe ihn Arnauds Charakter.
Das Festival Ethnocineca zeigt noch bis 19. Mai 2022 internationalen ethnografischen Dokumentarfilm im Votiv Kino sowie im De France.
Dieser Artikel entstand im Rahmen eines Schreibstipendiums, das die Ethnocineca gemeinsam mit The Gap vergeben hat. Weitere Einträge in unser Ethnocineca-Festivaltagebuch findet ihr hier.