Am Werk X-Petersplatz zeigt man mit »Geleemann, die Zukunft zwischen meinen Fingern« ein Theaterstück, dass sich einem Inhaftierten Asylwerber widmet, der aus seiner Gefängniszelle heraus seine Geschichte erzählt. Eine Uraufführung: Düster, fordernd und sehr kompliziert.
»Sexuelle Übergriffe von Asylwerbern: Die Bilanz fällt auch bedrückend aus«, so plakativ titelt nicht etwa die Kronen Zeitung oder die Österreich, sondern Der Standard am Sonntag, den 20. September, etwa eine halbe Woche bevor »Geleemann, die Zukunft zwischen meinen Fingern« am Werk X Petersplatz uraufgeführt wird. Wer Zweifel daran hatte, wie viel Aufmerksamkeit man mit den Themenkomplexen »Asylwerber« und »Kriminalität« im Jahr 2020 generieren könnte, musste schnell erkennen, dass die mehr als 4.000 abgesetzten Kommentare durchaus anhaltende Brisanz des Sujets offenlegten.
Eine der belastendsten Aussagen des Artikels stellt eine Einteilung in »vormodernen Gesellschaften« angehörigen Menschen dar, die bedinge, dass ebenjene Männer eine Frau in »Hotpants« als »Einladung« für einen Übergriff verstehen würden. Mit einem weiters hervorgebrachten Zitat, einem mindestens fragwürdigen Vergleich zu einem Hungernden, der Essen um sich herum sehe und sich dieses nehme, schien die Sache besiegelt; gleichwohl sich der Artikel gegen Ende um Ausgewogenheit bemüht, wenn festgehalten wird, dass innerhalb der Gruppe »Asylwerber« nur eine kleine Minderheit auffällig werde und die Mehrheit der Verbleibenden darunter leide. Was hängen blieb, war, dass hier ein Artikel geschrieben worden wäre, der eine Wahrheit ausspreche, die sich die Medien selten trauen würden, zuzugeben. Die Verknüpfung »Asylwerber« und »Kriminalität« – nun ein weiteres Mal manifestiert.
Auch »Geleemann, die Zukunft zwischen meinen Fingern«, die Uraufführung, die die neue Theatersaison am Werk X Petersplatz eröffnet, beschäftigt sich vordergründig mit einem kriminell auffällig gewordenen Asylwerber. Seinen Spitznamen »Geleemann« hat der gebürtige Teheraner, Protagonist des Theatertextes, von der Boulevardpresse verpasst bekommen, da er sich vor seinen Taten einölte, um nicht fassbar zu sein. Er ist medial bereits vorverurteilt und versucht dagegenzuhalten. Er selbst sieht sich als Poet und beginnt, seine Lebensgeschichte und seine Sicht der Dinge darzulegen.
Was kann mir das Theater über unsere Gesellschaft erzählen?
Frei nach Friedrich Schiller zitiert, kann Theater als Spiegel der Gesellschaft verstanden werden (innerhalb des Theaterstücks dient dies als eines von mehreren »Hat mal jemand gesagt«-Zitaten). »Die Schaubühne ist die Stiftung, wo sich Vergnügen mit Unterricht, Ruhe mit Anstrengung, Kurzweil mit Bildung gattet«, so Schiller. Gerade zu Beginn von »Geleemann, die Zukunft zwischen meinen Fingern« ähneln sich tatsächlich gar Argumentationsketten zwischen Stücktext und Standardartikel. Die Frage, was macht es mit Menschen, die an einen neuen Ort kommen und dort vor allem ignoriert werden, da sie sich in einem gesellschaftlichen Klima wiederfinden, in dem sie permanent offen medial herabgewürdigt werden? Vor allem in diesen Momenten ist der Theaterabend fordernd. Weil wir für bestimmte Straftaten keine Entschuldigung hören wollen. Weil die Suche nach Erklärungen den Duktus eines Relativierens von Schuld hat. Gleichzeitig sind es auch diese Momente, in denen es dem Theaterabend am deutlichsten gelingt, dem Publikum einen Spiegel vorzusetzen. In was für einer Gesellschaft leben wir, wen schließt sie aus und wen ein? Welche Konsequenz dieser Mechanismen ergeben sich daraus und inwieweit bin ich Teil dieser Ordnung?
Amir Gudarzi, Autor des zugrundeliegenden Theatertexts von »Geleemann, die Zukunft zwischen meinen Fingern«, der bereits für das vielbeachtete Stationentheater »Arash//Heimkehrer« 2018 am Theater Drachengasse verantwortlich zeichnete und 2017 den Exil-Dramatikerpreis gewann, wurde selbst 1986 während des Krieges in Teheran im Iran geboren. Seit 2009 ist der gelernte Theaterautor und Dramatiker im unfreiwilligen Exil in Wien. Mit seinem neuen Stück verlangt er dem Publikum sehr viel ab. Es ist viel Text, lange Passagen, bei denen man stets aufmerksam bleiben muss, dabeibleiben will. Was sind die Referenzen, was ist hier Wahrheit, was phantastische Erzählung? Über weite Strecken scheint es zu gelingen; der Text ist spannend genug, man findet hinein.
Gesprochen wird von vier DarstellerInnen, die ihre Sache gut machen. Festgelegte Rollen gibt es nicht, sie alle sprechen einzeln den »Geleemann« – als Gefängniswärter oder aber auch als ein Chor, wenn sie allseits bekannte Hasskommentare gegen AsylwerberInnen hervorbringen. Perspektivwechsel und Vielstimmigkeit. Doch gerade in der zweiten Hälfte des Abends, wenn es an die Beschreibung einer der Straftaten geht, steht dann die Frage im Raum, ob man als Teil des Publikums noch dabeigeblieben ist und den Ausführungen folgen, Nacherzälung und Phantasmen auseinanderhalten konnte. Vielleicht fordert man da etwas viel.
Vom Aufbauen und Einreißen von Wänden
Die Spiegelfunktion des Theaters wird auch in den Momenten schwächer, in denen zu einfache Zielscheiben unter Beschuss stehen. Sarkastisch über die Werte der Europäischen Union zu sprechen, über verfehlte ethische Grundsätze, Doppelmoral und Heuchelei, das ist einfach. »Hier gibt es nur ein Opfer – Österreich!«, ist ein weiterer dieser Sätze, die jähe Resonanz provozieren. Beides entlockt auch dem Publikum ohne Flucht- oder Migrationserfahrung ein wissendes Lachen – »We are in on the joke«. Dabei wäre es gerade in dieser Hinsicht spannend, einen Reflexionsprozess anzustoßen. Frei nach dem Motto: »We blame society but we are society.« Wäre es nicht wichtig, als Einzelpersonen eine Verantwortung dafür zu übernehmen, was in unserer Gesellschaft falsch läuft? Für das Ausschließen anderer?
Einen besonderen Kniff hat man jedoch vor allem in der Disposition des Bühnenbilds getan, das auch die Dringlichkeit der Stückinszenierung untermauert. Die DarstellerInnen halten Trennwände hoch, verbildlichen das Gefängnissetting. Sie befinden sich räumlich und metaphorisch hinter jenen Wänden; treten dahinter hervor. Die zugrundeliegende Symbolik mag nicht die subtilste sein, sie ist deswegen aber nicht weniger effektiv, wenn beispielsweise »Geleemann« mit seinem Zellengenossen, einem gebürtigen Israeli, spricht. Den hinteren Abschluss der Bühne bildet ein kleiner mit Plexiglas abgetrennter Raum. Hier sitzt nicht nur Pouyan Kheradmand, der den Theaterabend musikalisch atmosphärisch untermalt, hier begeben sich auch die DarstellerInnen hin, wenn sie vor Gericht stehen, verhört werden, über sich richten lassen. Sie werden abgefilmt und übergroß auf die Trennwände projiziert, während über sie gesprochen wird: Stumm, als mediale Projektion. Eben wie ein »Geleemann«, die boulevardistische Karikatur, hinter der doch ein Schicksal steckt. Hören wir zu?
»Geleemann, die Zukunft zwischen meinen Fingern« wird noch am 2. Oktober um 19:30 Uhr am Werk X-Petersplatz aufgeführt. Weitere Informationen zum Stück gibt es hier.