#DragIsNotACrime – Über den Angriff auf eine bunte Gesellschaft

Öffentliche Proteste, die Einschüchterung von Eltern und eine Sondersitzung des Wiener Landtags. Gegen Lesungen von Drag-Performer*innen für Kinder wird derzeit Stimmung gemacht. Der Versuch einer Einordnung.

© Daniel Hill

Ein alter Teppich ist direkt vorm Weltmuseum am Wiener Heldenplatz ausgerollt. Es ist ein warmer Spätsommertag. Etwa zehn Kinder sitzen um einen Ohrensessel herum und lauschen gespannt. Die Person, der sie zuhören, hat eine voluminöse blonde Mähne, trägt einen weiten Cardigan mit Leoparden-Print und beigen Rüschen, dazu einen altbackenen Strickrock und schwarze Boots. Die Kinderbücher, aus denen sie vorliest, dürfen sich die Kinder aus einem Lederkoffer aussuchen, den sie dabeihat.

Die beschriebene Szene stammt aus dem Jahr 2019. Im Zuge der Wienwoche liest Jupiter Braun als Kunstfigur Lady Nutjob damals Kindern im Alter von drei bis zehn Jahren vor. Als Elementarpädagog*in – zu dieser Zeit in einem städtischen Kindergarten tätig – ist Jupiter im Umgang mit Kindern Vollprofi. Begeistert machen diese mit, freuen sich immer wieder, wenn sie die nächste Lektüre aussuchen dürfen und lauschen dann gespannt den Geschichten.

Was vor wenigen Jahren noch wie eine recht unspektakuläre Veranstaltung wirkte, lässt mittlerweile die Wogen hochgehen. Die Eskalationsstufen, die das Vorlesen von Drag-Performer*innen für Kinder seither genommen hat, reichen vom Zumauern des Eingangs der städtischen Bücherei Wien-Mariahilf im Juni des Vorjahres (damit sollte eine Lesung der Dragqueen Candy Licious verhindert werden) bis zum kürzlich erreichten Höhepunkt diesen April: einem Protest vor der Türkis Rosa Lila Villa inklusive Sprechchören wie »Heimat, Freiheit, Tradition, Globohomo Endstation«.

Nun ist es grundsätzlich nichts Neues, dass Darsteller*innen ein anderes Geschlecht performen. Als breites Feld verschiedener Spielformen haben transgressive Darstellungen von Genderkonventionen auf Bühnen lange Tradition. Von männlichen Darstellern in Frauenmasken im antiken Theater über die reinen Männerensembles der Shakespeare’schen Theaterkompanien und die Hosenrollen, welche an der Oper zunehmend die Castrati ersetzten, bis hin zu Damen- und Herrendarsteller*innen in der Moderne reicht die Spannweite. In jedem Fall ist allerdings zwischen trans Menschen und Drag-Performer*innen sowie Cross-Dressenden zu unterscheiden.

Drag ≠ trans

Drag ist eine Performance, die zeitlich begrenzt stattfindet, etwa im Rahmen einer Drag-Show. Das Ziel ist nicht, ein Geschlecht möglichst exakt darzustellen, sondern vielmehr die überhöhte Performance eines Geschlechts. Cross-Dressende hingegen tragen Kleidung, die gesellschaftlich einem anderen Geschlecht zugeordnet ist – ohne den Rahmen einer Performance. Dies kann zeitlich auf gewisse Situationen beschränkt sein oder einfach Teil ihres alltäglichen Lebens. Sowohl Drag-Performer*innen als auch Cross-Dressende sind jedoch weder zwangsläufig noch in der Regel trans. Trans zu sein, hat nicht mit Kleidung und Performance zu tun, sondern mit Identität. Menschen sind trans, wenn das Geschlecht, welches ihnen bei der Geburt zugeteilt wurde, nicht mit jenem übereinstimmt, mit dem sie sich identifizieren. Welche Kleidung sie tragen, ob sie an Drag-Performances teilnehmen und so weiter ist davon völlig unabhängig.

Vor allem aus Orten, an denen LGBTQIA*-Menschen zusammenkommen, sind Drag-Performer*innen heute nicht mehr wegzudenken und nicht zuletzt Fernsehformate wie die Reality-TV-Sendung »RuPaul’s Drag Race« und deren diverse Ableger haben die Kunstform seit den 2010er-Jahren verstärkt im Mainstream untergebracht. Popstar Lady Gaga nahm auf der internationalen Bühne der MTV Music Awards 2011 ihre Preise als ihr Dragking-Alter-Ego entgegen und der Sieg von Conchita Wurst beim Eurovision Song Contest ist auch schon fast wieder ein Jahrzehnt her.

Die Drag-Performer*innen Freya van Kant, Finn, Lady Nutjob und Madame Léa (Foto: Daniel Hill)

In den USA schuf die Autorin und Aktivistin Michelle Tea 2015 die »Drag Queen Story Hour« (mittlerweile inklusiver »Drag Story Hour«), bei der Drag-Performer*innen in Büchereien, Schulen und Buchhandlungen für Kinder aus altersgerechten Büchern vorlesen. Diese Kombination ist für sich genommen nicht überraschend, verbindet sie doch eine Begeisterung von Kindern für Kostümierungen und gute Geschichten mit der Möglichkeit, Kinder mit queeren Identitäten und Lebensweisen vertraut zu machen und spielerisch für Toleranz und Respekt zu sensibilisieren.

Während die »Drag Story Hour« schnell an Popularität gewann und auch in anderen Ländern adaptiert wurde, regte sich in den USA zunehmend organisierter Protest gegen das Veranstaltungsformat. Die Einschüchterung von Eltern und Kindern bei einer Drag-Lesung in Kalifornien, ein Brandanschlag auf einen Veranstaltungsort in Oklahoma und die Stürmung einer »Drag Story Hour« durch eine Gruppe bewaffneter rechter männlicher Aktivisten in Nevada bilden nur einen Teil der Angriffe ab. Auf die parteipolitische Tagesordnung hat es das Thema überdies geschafft: Ron DeSantis, Gouverneur Floridas und republikanischer Präsidentschaftsanwärter, ließ etwa verlauten, es sollte untersucht werden, ob Eltern, die ihre Kinder zu Drag-Veranstaltungen mitnehmen, nicht wegen Kindesmissbrauchs belangt werden könnten.

Recycelte Queer-Feindlichkeit

Ein Schlagwort, das in diesem Zusammenhang häufig fällt, ist »Grooming«, also Minderjährige durch scheinbar freundschaftlichen Kontakt und emotionale Manipulation auf einen folgenden Missbrauch vorzubereiten. Die Unterstellung gegenüber Drag-Lesungen: Erwachsene Menschen würden sich an einer Umerziehung von Kindern versuchen – eine Argumentation, die nahtlos an homophobe Kampagnen aus den späten 1970er-Jahren anschließt. Damals fantasierten christliche Fundamentalist*innen in den USA, Schwule und Lesben hätten den Nachteil, sich nicht fortpflanzen zu können, und seien daher darauf angewiesen, Kinder anzuwerben. So ist auch die Rede davon, Kinder trans »machen zu wollen«. Die Unterscheidung von Drag als Kunstform und trans Identitäten als Lebensrealität entfällt in der Regel vollständig. Heute wie damals werden queere Menschen unter den Generalverdacht der Pädophilie gestellt.

In Österreich sind die sogenannte Identitäre Bewegung (der Begriff »Bewegung« ist insofern irreführend, da es sich zahlenmäßig um eine stets recht kleine Gruppe handelte) und deren Folgeorganisationen maßgeblich daran beteiligt, das Thema Drag-Lesungen für Kinder auf die politische Agenda zu bringen. Wurde der rechtsextremen Gruppierung vor allem um 2015 herum mediale Aufmerksamkeit zuteil, hatte sie danach zunehmend Schwierigkeiten, öffentliche Sichtbarkeit zu generieren. Das hing laut Judith Goetz, Literatur- und Politikwissenschaftlerin, Genderforscherin und Rechtsextremismusexpertin, unter anderem damit zusammen, dass sie vergeschlechtliche Gewalt zu ihrem zentralen Thema erklärt hatte, sich dabei jedoch auf Angstnarrative um Übergriffe auf Frauen durch migrantisierte Männer beschränkte. Goetz zufolge durchschaute die Bevölkerung diese rassistische Instrumentalisierung, da sich die Identitären zu anderen Anlässen, bei denen es um sexualisierte Gewalt ging, auffällig still verhielten.

Zudem erfuhr die Gruppierung einen Backlash, nachdem Verbindungen zum Täter des anti-muslimischen Terroranschlags von Christchurch, Neuseeland, publik wurden. Der Attentäter, der bei seiner Tat mehr als 50 Menschen tötete, stand nicht nur in einem ideologischen Naheverhältnis zu den Identitären, sondern hatte auch deren Obmann Martin Sellner eine größere Geldspende überwiesen. Zuletzt versuchte die Gruppe unter dem Namen Die Österreicher mit feindlicher Rhetorik gegen queere Menschen ein Comeback.

Rechte Protestallianzen

»Seit ungefähr eineinhalb Jahren haben sie ein neues Thema für sich entdeckt: LGBTQIA*-Rechte«, erklärt Goetz. »Das hat schlichtweg damit zu tun, dass es bislang noch wenig gesellschaftliche Debatte rund um diese Themen gegeben hat, sodass sich hier Diskursräume eröffnen, die noch nicht so stark von anderen politischen Akteur*innen besetzt sind. Insbesondere mit dem Fokus auf das wehrlose, beschützenswerte, unschuldige Kind, das hier vermeintlich ›frühsexualisiert‹ würde, wird eine Argumentationsstrategie gewählt, die in breiten gesellschaftlichen Kreisen anschlussfähig ist«.

Der Protest gegen die Drag-Lesung Mitte April fungierte dabei als gemeinsames Mobilisierungsmoment von unterschiedlichen politischen Akteur*innen. Für ihren Protest wurden die Identitären nicht nur von Corona-Maßnahmen-Gegner*innen, sondern auch von christlichen Fundamentalist*innen unterstützt. Während die American Civil Liberties Union (ACLU) fürs Jahr 2023 bereits fast 500 Anti-LGBTQIA*-Gesetzesvorlagen zählt, die in den Parlamenten diverser US-Bundesstaaten eingebracht wurden, beteiligen sich hierzulande FPÖ und ÖVP unter dem Vorwand des »Kinderschutzes« an diesem queer-feindlichen Anliegen und setzten das Thema in einer Sondersitzung des Wiener Landtags auf die politische Tagesordnung.

»Drag Story Hour«: Kinder spielerisch für Toleranz sensibilisieren (Foto: Daniel Hill)

Jegliche Argumentationen, die von »Grooming« oder »Frühsexualisierung« ausgehen, zeugen von einem grundsätzlichen Missverstehen dessen, was eine »Drag Story Hour« vermitteln kann und wie sich menschliche Geschlechts- und Sexualidentität bilden. »Es gibt keine wissenschaftlichen Hinweise darauf, dass Kinder homosexuell, trans oder queer werden, wenn sie etwas über diese Themen lernen«, erklärt Petra Birchbauer, Psychologin und Vorsitzende im Bundesverband Österreichischer Kinderschutzzentren in der Tageszeitung Der Standard. »Was aber sehr wohl geprägt wird, ist unsere Haltung: Wenn Kinder etwa Diversität früh kennenlernen, fällt es ihnen leichter, diese einzuordnen. Das macht keine Angst, sondern nimmt sie.«

Ähnlich argumentiert auch Jupiter Braun hinsichtlich des pädagogischen Werts von Drag-Lesungen für Kinder: »Sie werden nicht nur mit der großen Bandbreite konfrontiert, die das Leben, ihr Alltag beinhaltet, und den vielen Vorteilen, die Diversität und Unterschiede bringen können, sondern sie werden auch dazu ermutigt, für sich selbst zu entscheiden, wie sie leben wollen. Sie lernen Werkzeuge kennen, wie sie ihrer Selbstbestimmung Ausdruck verleihen können. Fakt ist, dass ich in den vier Jahren, in denen ich nun schon Kinderbücher in Drag lese, noch kein einziges Kind erlebt hätte, das sich langweilt oder fürchtet. Und das spricht ja schon mal sehr für solche Kinderbuchlesungen.«

Ein Protestzug kommt bei der Drag-Lesung im September 2019 vor dem Weltmuseum dann tatsächlich auch noch vorbei. Die Demo gegen eine Neuauflage von Türkis-Blau zieht eine Woche vor den Nationalratswahlen durch die Stadt. Die Lesung setzt Jupiter Braun unbeirrt fort und lässt die Kinder ein letztes Buch aussuchen. In »Der Junge im Rock« geht es darum, dass der junge Felix im Kindergarten gehänselt wird, weil er gerne Röcke trägt. Aus Sicht der anderen Kinder seien Röcke schließlich »Mädchensachen«. Unaufgeregt ermutigt das Buch, Konventionen zu hinterfragen und andere Menschen so anzunehmen, wie sie sind. »Im Rock kann ich viel besser springen und klettern. Nichts stört und zwickt an meinen Beinen«, erklärt Felix in der Geschichte, »es muss doch egal sein, was ich anziehe, wenn es mir gefällt.«

In der Türkis Rosa Lila Villa wird auch Drag-Unterhaltung für Erwachsene veranstaltet, zum Beispiel – jeweils samstags – der »Queens Brunch«. Am 19. Juni 2023 findet die nächste Drag-Kinderbuch-Lesung in der städtischen Bücherei Wieden statt. Zwei Arbeiten unseres Fotografen Daniel Hill sind im Rahmen des Pride Months noch bis Ende Juni am Vorplatz des Museumsquartiers ausgestellt. Am 14. Juni findet auf der MQ Sommerbühne die »MQ Pride Night« statt – kuratiert von Daniel Hill und moderiert von Denise Palmieri, mit Danielle Pamp, Faris Cuchi, Haus of Rausch, Kiki House of Dive und Bicha Boo.

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