Gender Gap: Bitte Abstand halten

Wem gehört der öffentliche Raum? Und wieso fühlen wir uns nicht alle gleich wohl in verlassenen Seitengassen? Warum es manchmal hilft, wenn ein Mann* einfach die Straßen­­­seite wechselt.

© Michael Exner

Auch ich bin einer von diesen Menschen, die sich während der Pandemie ein Haustier zugelegt haben. Meine flauschige Mitbewohnerin Sieglinde und ich müssen manchmal zum Tierarzt. Weil ich den kleinen Stubentiger dort zu Fuß hinbringe, habe ich statt einer unhandlichen Transportbox einen Katzenrucksack mit Aussicht besorgt. Letztens war ich also mit Katze am Rücken in einer verlassenen Seitengasse unterwegs, als zehn Meter hinter mir jemand aufgeregt in sein Handy redete: »OMG, there’s a woman with a cat in her backpack walking in front of me!« Ich drehte mich um, winkte freundlich und sah, dass es sich um einen Mann Anfang 20 handelte. Er zeigte auf mich, bekräftigte: »Ja, du!« Ich ging weiter, und das hätte das Ende dieser Geschichte sein können.

Not all men

Doch dann spürte ich, wie der Mann den Abstand zwischen uns schnellen Schrittes verringerte. Unangenehm berührt davon, dass ein fremder Mensch im öffentlichen Raum gerade laut genug über mich geredet hatte, sodass ich es selbst hören konnte, ging ich ebenfalls schneller, um die Distanz zu wahren. Warum kam er mir trotzdem immer näher? Alle FLINTA*-Personen kennen dieses ungute Gefühl aus eigener Erfahrung, auch wenn es häufiger nachts auftritt. Es kann einen Wirbelwind an (berechtigten!) Fragen aufwerfen: Was hat der fremde Kerl vor? Will er mich begrapschen, ausrauben, vergewaltigen, die Katze stehlen?

Als ich bei der nächsten Kreuzung um die Ecke bog und er mir trotzdem weiter im Nacken saß, bekam ich endgültig Herzrasen. Nur noch ein paar Schritte. Endlich bei der rettenden Tür zur Tierarztpraxis angekommen, huschte ich hastig hinein und machte sie hinter mir zu. Aus den Augenwinkeln sah ich den Mann noch einmal. Er war jetzt nur noch einen halben Meter entfernt direkt hinter mir, hatte sein Handy gezückt und auf mich und meine Katze gerichtet. Okay, immer mit der Ruhe, er wollte anscheinend bloß ein lustiges Tiktok-Video machen. Moment einmal. Er wollte bloß ein lustiges Video machen?! Und deshalb bin ich hier gerade verängstigt ins Wartezimmer gestürmt? Ich war gleichzeitig erleichtert und wahnsinnig verärgert. Dieser Mensch war so privilegiert und naiv, dass ihm die Idee gar nicht in den Sinn kam, dass sein Missachten von An- und Abstand panische Angst auslösen kann.

So geht es anscheinend vielen Männern, denen es glücklicherweise nie einfallen würde, eine FLINTA*-Person auf der Straße zu belästigen. Aber nur weil sie selbst so etwas nicht machen würden, bedeutet das nicht, dass die Person vor ihnen das auch weiß und darauf vertrauen kann. Sie hat wahrscheinlich schon die ein oder andere negative Erfahrung hinter sich, die sie vorsichtig macht. Eine unlängst am Heimweg ermordete Britin löste – wieder einmal – Diskussionen darüber aus. Beinahe jede FLINTA*-Person hat schon einmal nachts am Nachhauseweg ihre Wohnungsschlüssel fest umklammert; nur mit einem Ohr Musik gehört, um potenzielle Gefahren in ihrer Umgebung wahrzunehmen; so getan, als würde sie mit jemandem telefonieren oder die Straßenseite gewechselt, wenn schon länger eine andere Person hinter ihr ging; ihren Handy-Standort sicherheitshalber mit einem Lieblingsmenschen geteilt; einen Umweg gemacht, weil der besser beleuchtet war – oder das Haus erst gar nicht verlassen. Gerade während der Ausgangssperren wurde klar, wem der öffentliche Raum wirklich gehört: Sobald es dunkel wurde, sah man beinahe nur noch Männer auf der Straße.

Aber all women

Wir müssen uns aktiv dagegen wehren, dass unsere neue Biedermeier-Lebensweise einen feministischen Backlash mit sich bringt. FLINTA*-Personen sind ohnehin schon in mehrfacher Hinsicht Pandemieverlierer*innen, weil Ungleichheiten im letzten Jahr verstärkt statt abgebaut wurden. Durch die Corona-Krise hat sich das Leben öfter outdoor abgespielt. Dadurch wurde die Notwendigkeit, den öffentlichen Raum für alle Teile der Gesellschaft attraktiv, sicher und fair zu gestalten, noch virulenter. Egal, ob es um vermeintliche Kleinigkeiten wie öffentliche WC-Anlagen, Beleuchtung oder eben auch Abstandhalten geht: Sie machen einen Unterschied für diejenigen, die sie betreffen.

Glücklicherweise gibt es auf Tiktok nicht nur Katzenverfolger, sondern auch reflektierten Content, der einen Beitrag dazu leistet. Letztens stellte ein User die Frage: »Man fühlt sich immer so schlecht, wenn man einer Frau im Dunkeln begegnet. Gibt’s irgendein Zeichen, um zu zeigen, dass man nichts tun will?« Er erhielt zahlreiche Antworten: »Ein Typ hat mich mal gefragt, ob er überholen soll, damit er nicht hinter mir geht. Fand ich super.« Oder: »War mal in ’ner fremden Stadt hinter einer Frau und bin abgebogen, um sie nicht zu erschrecken. War bis ca. 8 Uhr verloren.« Ein User meinte: »Ich wechsle immer die Straßenseite.« Ein anderer erzählte: »Ich versuch immer, kurz anzuhalten, um Entfernung aufzubauen und tue dabei so, als hätte ich irgendwas verloren.« Eine Userin berichtete: »Ein Kerl hat mal gesungen. So schief, dass ich lachen musste. Dann sagte er: Oh gut. Ich wollte nur, dass du hörst, dass ich nicht näher rankomme.« The kids are alright.

Anmerkung: FLINTA ist ein Schirmbegriff für Frauen, Lesben, inter, non-binary, trans und agender Personen und fasst im Patriarchat unterdrückte Identitäten zusammen.

Astrid Exner ist per Mail unter exner@thegap.at sowie auf Twitter unter @astridexner zu erreichen.

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