Gib mir alles

Diedrich Diederichsen hat das wichtigste Buch über Pop-Musik geschrieben, das es auf Deutsch gibt. Weil man das sowieso lesen muss, haben wir mit ihm eher über die Gegenwart und Zukunft – nicht nur von Pop-Musik – geredet.

Du hast im Buch dieses Nicht-Mit-Sich-Selbst-Einig-Sein beschrieben, als etwas, das Pop-Musik wieder können sollte.

Das stimmt schon. Es ist nur so, wenn dann gesagt wird: »Guck mal, hier ist der Sound des Mit-Sich-Selbst-Uneins-Seins, rockt er nicht unglaublich gut?«, dann ist das kein Mit-Sich-Selbst-Uneins-Sein. Aber es ist natürlich ein schmaler Grat zwischen diesen beiden Dingen.

Das bringt mich auf deine Punctum-Theorie, die mich verblüfft hat, weil es ein Phänomen von Pop-Musik greifbar macht, für den es in der Pop-Theorie noch keinen Begriff gab.

Hier an der Akademie ist sie in der Fototheorie Täglich Brot und »Camera Lucida« einer der bekanntesten Texte. Mich interessieren daran nur wenige Aspekte. Eine Brisanz hat er, weil Roland Barthes darin sagt, dass durch diesen unkontrollierbaren Punctum-Effekt Fotografie nie Kunst sein kann, weil Kunst ohne eine Intention dahinter nicht geht. Das ist für mich ein entscheidender Punkt. Zum einen gibt es nun aber im High Modernism alle möglichen Versuche Kunst ohne Intention zu denken, von John Cage bis zur Aleatorik, zum anderen gibt es Versuche den Punctum-Effekt zu simulieren. In der Pop-Musik wird dieser geradezu professionalisiert. Von einer medientheoretischen Perspektive ist die Punctum-Theorie ja eine Index-Theorie, dass phonografische Aufzeichnungen nämlich indexikal sind.

Du lädst das aber schon ganz anders auf. Du redest von einer Metaphysik und fast schon von Magie.

Das Punctum ist ein Effekt, den man mit dem Index machen kann. Insofern ist die Voraussetzung, dass indexikalische Verhältnisse da sind. Aber es ist schon richtig, das Punctum ist mehr als nur diese Tatsache. Die Inszenierung der indexikalen Seite einer Aufzeichnung ist dann fast schon die Bühne bereiten für mögliche Punctum-Effekte. Und das meine ich macht der Engineer im Studio, aber auch die Musik, die Kompositionen und Klangfarben, in die die Direktübertragungen von anderer Leute Körper eingebettet sind.

Warum beginnt Pop-Musik für dich nicht schon mit der Erfindung von Schellacks, Mikrofonen, Radio, mit Bing Crosby, Swing und Country?

Mehrere Gründe: Es gibt nicht diese soziale Konstruktion, dass ein Live-Konzert und eine bestimmte private Erfahrung aufeinander zugeschnitten sind. Das wenige Hören zuhause ist ein ganz anderes Hören, es ist nicht Hören derselben. Es gibt zweitens keine Bilder. Bing Cosby ist nicht permanent mit einem Bild verbunden. Seine Filme sieht man einmal im Leben – Elvis sieht man jeden Tag im Fernsehen. Deshalb ist das Ausgangsjahr der Pop-Musik für mich auch nicht das der ersten Rock’n’Roll-Singles, sondern das erste Jahr, in dem Elvis im Fernsehen war, das war 1956. Es gibt außerdem keine Produktion, die diese unterschiedlichen Bereiche des Populären verbinden will. Filme und Schellacks hängen nicht zusammen. Wenn etwas zusammenhängt, dann Film und Radio. Für die Musikindustrie war das Hauptgeschäft bis in die 40er hinein immer noch Sheet Music, also Partituren und nicht der Verkauf von Schallplatten. Und es gab keine verbindenden Populärkulturen, die Transformationen mitmachten. Das Interessante an der Pop-Musik der 50er Jahre ist ja, dass sie Black und White zusammenbringt – oder sie in einer Geste trennt und in einer anderen vereint. Es gibt dabei natürlich Elemente schon vor 1956, die einzelne Komponenten schon entwickelt haben, vor allem im Jazz, nur diese Einheit aus vielen disparaten, technischen und gesellschaftlichen Neuerungen ist ein wichtiger Punkt, um da eine Zäsur zu setzen.

Bild(er) © Diedrich Diederichsen Privatarchiv, Kiepenheuer & Witsch
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