Diedrich Diederichsen hat das wichtigste Buch über Pop-Musik geschrieben, das es auf Deutsch gibt. Weil man das sowieso lesen muss, haben wir mit ihm eher über die Gegenwart und Zukunft – nicht nur von Pop-Musik – geredet.
In der Gegenwart werden große Fragen wie Netzneutralität, Überwachung oder Filter Bubbles nicht mehr über Pop-Musik gestellt. Warum findet das so gut wie keine Entsprechung? Es hat Pop-Musik immer ausgemacht, so etwas sofort reflektieren zu können.
Ich bin nicht sicher, ob das nicht schon reflektiert wird. Bestes Beispiel: die viel gelobte Actress-Platte, da werden netzkulturelle Phänomene zumindest klanglich symbolisiert. Das hängt noch an keiner großen Glocke, trotzdem würde man wohl in zehn Jahren auf die Frage »Was ist der Soundtrack zu Snowden?« sagen: Actress.
Mir würden auch noch andere Beispiele einfallen, Oneohtrix Point Never, Fatima Al Qadiri oder Nguzungzu, die gibt es, aber es geht doch sehr in die Richtung von dem, was du als Absolute Pop-Musik, also Pop als Kunst, beschreibst.
Ich glaube deshalb nicht, weil es bei beiden – also Oneohtrix Point Never und Actress – sehr stark einen sozialen Sinn gibt, der ganz klar mit den Clubkulturen der letzten 15 Jahre zu tun hat – und nur darüber gelesen werden kann. Sie sind noch in ein soziales Ganzes eingebunden, sie interagieren mit einem zeitgenössischen Publikum, während sich diese Konstruktion der Absoluten Pop-Musik ja einen Akt der Autonomie vorstellt, es heraushebt, auf ein Samtkissen legt und präpariert.
Du siehst offenbar in Clubkultur ein gewisses Potenzial, aber sie ist auch nah am Opportunismus.
Ja, das ist auch wieder eine Einerseits-Andrerseits-Figur. Ich gehe cirka einmal die Woche auf Playlists und höre mir an, was in der Welt des – im weitesten Sinne – Indierocks passiert und das ist immer total niederschmetternd. Die Texte und Reviews darüber sind oft sehr einladend, die Hörerfahrung oft enttäuschend. Grundsätzlich habe ich dieses Erlebnis bei Clubkultur nicht. Vielleicht, weil die Texte darüber viel weniger identifikatorisch sind, lapidar, funktional und Phänomene als siebzehnt-generational beschrieben. Und weil es noch so heil ist. Im Grunde funktioniert das noch genauso wie vor 15, 20 Jahren.
Wo passiert heute noch Popkritik?
Nun ja, neuerdings in Akademia. Zumindest wird dort detailliert und auf einem gewissen Niveau über Phänomene gesprochen. Allerdings suspendieren sich die Leute meistens von dem Anspruch der Kritik. Es entstehen da aber Diskurse, die es vorher noch nicht gab. Zweitens ist die Fähigkeit die relevanten Teile eines Stücks Pop-Musik benennen zu können, so hoch wie noch nie. Die Popkritiken eines 17-Jährigen in der »Supermarktrundschau Niederösterreich« sind auf einer Ebene besser als alles, was die wichtigsten Schreiber 1975 in /Sounds/ geschrieben haben. Damit meine ich, dass er oder sie an einem Stück Pop-Musik die relevanten Bestandteile erkennt. Die allgemeine Verständigung über die Elemente hat enorm an Eloquenz und Virtuosität zugenommen. Die Fragestellung insinuiert nun aber, als wäre da etwas den Bach runtergegangen …
Heute ist es aber doch oft nur ein auratisches und an der Persönlichkeit teilhabendes Schreiben …
… ja, das stimmt. Es gab vor zehn Jahren einen Schub, da war es neu, dass Feuilletons überhaupt relevant über Pop-Musik schreiben konnten – und man war begeistert, dass es überhaupt ein Vokabular hatte. Dann hat sich das nicht weiterentwickelt. Die neuen Phänomene werden kommentiert und es langt. Das stimmt. Auf der anderen Seite gibt es einzelne Autoren, die das weiterhin können.
Du schreibst am Ende von einem Ende der Pop-Musik entweder in Absoluter Musik oder aber in einem aktualisierten Wiederholen alter Trends aus dem Jahr 1971, also »Retromania« – hat nun Pop-Musik vielleicht sogar ihr Ziel erreicht, indem sie Subjektformate erfolgreich etabliert hat, die jetzt mit sich selbst einig sein können?
Ja ja, das wäre die Thomas-Frank-These – also im gesamten Zyklus der Babyboomer und Gegenkulturen nichts anderes zu sehen als die kulturelle Begleitmusik zur Installation eines neuen Kapitalismus und seiner Subjektformate. Da ist was dran, aber es ist zu einfach. Der Umbau der Kulturindustrie erfolgte als eine Zusammenarbeit der Kritiker und der angestellten Optimierer im Laden selbst. Beide haben Anteil am Ergebnis. Die Befreiung von der Fabrikarbeit hin zur Vermarktung der eigenen Selbstverwirklichung enthält eben sowohl die Unterwerfung als auch die Befreiung – man muss beide Teile berücksichtigen. Der Zyklus endet in gewisser Weise damit. Dabei werden nicht einfach nur historische Resultate produziert, sondern schon darin ist ein Gegenmoment erkennbar, der mit dem Modell des Spiels zu tun hat, das natürlich seinerseits keine Befreiungsbewegung ist.
»Über Pop-Musik« von Diedrich Diederichsen ist 474 Seiten dick und erscheint am 8. März bei Kiepenheuer & Witsch.