„Ich glaube nicht an die heile Welt.“

Doch Gentleman ist überzeugt, dass sie ein wenig heiler gestaltet werden kann. Mit seinem neuen Album „Diversity“ versucht der 35jährige Reggaesänger einen weiteren Beitrag dazu zu liefern.

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Nach Alben wie „Journey to Jah“ oder „Confidence“, die ihm einen hohen Stellenwert in der Conscious-Reggae-Welt gebracht haben, schlägt Gentleman aktuell auch andere Töne an. Doch egal ob Auto-Tune, Uptempotrack oder dem schon zuvor geschätzten Rootsreggae, seine Tracks liefern wie gewohnt eingängige Melodien und Lyrics von Lovers bis Rasta. Ersteres nicht zu süß und Zweiteres nicht zu blind-idealistisch. Im Gespräch erzählt Gentleman von den Machenschaften der Reggaepolizei und Kolumbus, von den Tücken schöner Musik und Barack Obamas Job, und vom größten gemeinsamen Nenner, den er als Chance für das Miteinander sieht und den er immer wieder entdeckt; egal ob auf Tourneen in Afrika, beim Abhängen in jamaikanischen Aufnahmestudios oder gemeinsam mit seiner Familie? Bei so vielen Schauplätzen stellt sich doch die Frage:

Wo fühlst du dich zu Hause?

Ich glaube zu Hause wird immer mehr ein Zustand, immer weniger ein Ort. Ich fühl mich zu Hause, wenn ich mit meinen Kindern zusammen bin, ich fühle mich aber auch auf der Bühne zu Hause. Ich fühl mich auch im Tourbus zu Hause. Vom Ort her fühle ich mich in Kingston zu Hause, aber auch in Köln, wo meine Familie ist. Aber wie gesagt, das ist immer mehr ein Zustand, ein Gefühl.

Ergibt sich als aus Deutschland kommender Reggaesänger, der Patois/Englisch für die Texte nutzt und viel in Jamaika arbeitet, eine Art von Dazwischen und eine Rolle, die in beiden Welten exotisch wirkt? Und was nimmt man vom Pendeln mit?

Dass irgendwann die Grenzen zerfließen. Das ist und sollte auch der Anspruch der Musik sein und vielleicht war das am Anfang noch exotisch. Mittlerweile gibt es diesen Foreigner-Bonus, so wie es in Jamaika oft genannt wird, nicht mehr; der ist irgendwann verpufft und ich sehe auch, dass es mittlerweile viele Künstler gibt, ob das nun Ziggi aus Holland ist, oder Million Stylez aus Schweden, oder Irievibrations, das Produzententeam aus Österreich, die mit ihren Produktionen in Jamaika auf offene Ohren stoßen. Das ist eigentlich egal, wo das nun herkommt. Vielleicht ist das der positive Effekt der Globalisierung, dass auch in der Musik eine solche stattgefunden hat.

In Jamaika kennen viele meine Songs aus dem Radio und die wissen nicht zwangsläufig, von wem das Stück ist. Das ist denen auch egal, so lange es sie moved und so lange sie etwas mit dem Text anfangen können. Ich habe zum Glück nie etwas gesungen, hinter dem ich jetzt nicht stehen kann. Natürlich gibt es ganz viele Textzeilen, wo ich mir denke: ‚Hättest du das doch noch einmal anders ausgedrückt!‘, aber von der Richtung her, hatte ich – glaube ich – immer die richtigen Leute zur rechten Zeit um mich rum. Ob das an einem gewissen Punkt ein Luciano war, der mir gesagt hatte – bevor ich einmal so richtig slack werden wollte: "Hey, don’t sing bad words in your songs and you will reach far then"; oder ob das ein Jack Radics war, von dem ich, was das Songwriting angeht, viel gelernt habe. Oder Daddy Rings, auch was Songwriting angeht, oder was die Musiker in der Band angeht, oder was die Plattenfirma angeht; also das Umfeld – die Familie natürlich -, um eine Balance zu haben und um auch zu wachsen.

(Einschub #1: Das Wachsen bestimmt für Gentleman den Erfolg seiner 20-jährigen Karriere. „Mit jedem Album fängst du wieder bei null an.“ Wobei natürlich die Themen die Basis liefern: „Es sind die Gemeinsamkeiten, an denen ich mich festhalte, und nicht die Differenzen.“ Natürlich sei das auch verallgemeinernd, aber gewisse Grundbausteine, wie Emotionen, Ängste, Sorgen, Freuden würden weltweit empfunden. Somit findet sich überall ein kleinster gemeinsamer … „Sag der ‚größte’. Ich bin ja Idealist.“, wirft Gentleman ein. Und deshalb: Es findet sich überall der größte gemeinsame Nenner. Deshalb auch der Titel für das neueste Werk „Diversity“.)

War der Titel Programm, oder ergab das Programm den Titel?

Also es gab zuerst die Songs, bevor es einen Willen, oder einen Plan gab: „Ich mach jetzt ein Album.“. Das war ein Zeitpunkt, wo es weder eine Plattenfirma, noch irgendein Releasedate gab. Ich habe viel Zeit in Jamaika verbracht, viel Zeit bei Don Corleon verbracht und ich habe wirklich keine Berührungsängste gehabt mich einfach einmal auszutoben und das zu machen, worauf ich Bock habe, ohne jetzt auf die Reggaepolizei zu achten. Ohne jetzt immer diesen Gedanken zu haben: ‚Oh Gott, also entweder es muss so sein, oder das passt da jetzt nicht zu mir‘, also dies Berührungsängste einfach einmal fallen zu lassen.

(Einschub #2: Gentleman liest die Notiz „Reggaepolizei“ auf meinem Zettel und wiederholt die Anmerkung halbernst – kommentiert, dass das die Professoren seien, die zum Beispiel auch in der Riddim schreiben und ihre Bewertungssterne verteilen. „In Jamaika ist es eher so: Entweder die Leute spüren deinen Sound, oder sie spüren ihn eben nicht. Und denken dann gar nicht darüber nach und schreiben auch erst gar nicht darüber.“ Lob und Kritik könne man sich schon anhören, doch er lässt sie mittlerweile nicht mehr zu nah an sich heran. „Du musst einfach irgendwo bei dir bleiben, sonst drehst du ja durch.“)

Die Kritik am unmenschlichem Zwischenmenschlichem ist eine inhaltliche Konstante bei deinen Texten. Hast du das Gefühl dass die Anregungen für eine heile Welt als Idealismus abgetan und verharmlost werden? 



Ich glaube ja auch nicht an die heile Welt, das habe ich ja auch noch nie gesagt. Aber ich glaube, dass wir die Welt erträglicher gestalten können, in dem wir Sachen ansprechen und nicht Sachen verdrängen. Und diese Verdrängungsmechanismen, stören mich am meisten an uns. Und das Allerschlimmste ist, wenn du als einzelne Person das Gefühl hast, dass mit uns etwas nicht stimmt und um dich herum existiert nur diese Spaßgesellschaft.

Aber in dem Moment, wo ich das in einem Song einmal beschreibe, ohne jetzt gleich die Lösung parat zu haben, dann wird es – glaube ich – erträglicher. Wenn ich als Zuhörer einen Song höre, wo jemand einfach sagt: ‚Ey Mann, ich bin echt traurig, weil irgendwie …‘ und du denkst dir: ‚Wow, ich bin nicht alleine mit meinen Gedanken, es ist doch so, wie ich das empfinde‘. Das tut gut. Ich meine wir können und dürfen auch Spaß haben, aber diese Verdrängung, die wir da an den Tag legen, stört mich extrem. Ich glaube nicht an die heile Welt; ganz bestimmt nicht.


Du zitierst an einer Stelle des Albums einen Satz Barack Obamas. Glaubst du, dass durch eine solche Person der Idealismus wieder eine Chance bekommt?

Ich habe das Buch „The Audacity of Hope“ gelesen, bevor er Präsident geworden ist und da war einfach dieser Satz drinnen, der – es ist ja auch im Grunde egal von wem der Satz jetzt eigentlich kommt – er ist auch auf dem Album drauf, ohne dass da jetzt steht ‚Barack Obama‘; weil das gab es bestimmt schon irgendwo und ich finde, dass die Gemeinsamkeiten viel wichtiger sind als die Differenzen und wenn wir uns daran festhalten, kommen wir einen ganzen Schritt weiter. Aber ich glaube, Obama wird sich dann irgendwann auch verändern, weil er sehen wird, dass er sich in einem ziemlich aussichtslosen Geschäft befindet und einer Lobby gegenübersteht; den ganzen ignoranten Menschen und dass ihm dadurch die Hände gebunden sind und das ist etwas, woran man verzweifeln könnte, wenn man so einen Typen sieht, den ich persönlich echt gut finde. Ich glaube, er hat ein gutes Herz und er ist einer der intelligentesten Präsidenten, die Amerika je hatte, und wenn so einer das nicht schafft, wer soll es dann schaffen? Das ist einfach die Erkenntnis, dass Politiker sich einmal beugen müssen.

Bald wird auf der Homepage des Labels dein Album beworben werden, doch im Moment finden sich dort Platten von Sido oder den Ursprung Buam. Welche Rolle spielt Reggae in diesem Zusammenhang?

Das kann ich gar nicht beurteilen. Ich meine Sido hat einen großen Schritt gemacht und schreibt mittlerweile Texte, die ich selbst meinem Sohn vorspielen kann; er hat sich echt entwickelt. Aber ich weiß nicht. Reggae ist ja auch so breit gefächert. Man kann ja auch nicht sagen ‚That’s the message of reggae music‘, das ist ja ganz schwer. Ich sage einmal Conscious Roots Reggae, das lässt sich vielleicht in einem Atemzug beschreiben und das ist für mich die Kraft und das ist die Energie, in die ich mich so verliebt habe. Die Lyrics von einem Jakob Miller, Dennis Brown, Peter Tosh, Garnet Silk, Bob Marley, diese Lyrics, die auch gerade bei Rasta, so eine Direktheit, eine solche Ehrlichkeit, so eine politische soziale Haltung haben, Sachen zu hinterfragen.

Dass Christoph Kolumbus eben nicht so ein Held war, wie es bei mir im Geschichtsbuch stand, sondern ein Wichser war, der da hingegangen ist und eine Ultrakolonialhaltung hatte und ein Volk niedergetrampelt hat und in unseren Geschichtsbüchern immer noch als Held gefeiert wird, wie Napoleon. Das ist ja unfassbar. Das sind so Sachen, die mir Rasta näher gebracht hat. Und da gibt es einfach so viele Punkte, die mir zusagen, die ich höre oder sehe und wo ich sage: ‚Na klar!‘, wo es diesen Aha-Klickeffekt gibt. Das habe ich in keiner anderen Musikrichtung gefunden, außer bei Rootsreggae.

Und dann gibt es wieder eine andere Seite mit Dancehallreggae, wo diese unglaubliche Gewaltverherrlichung ist und womit ich überhaupt nichts damit anfangen kann. Aber du kannst auch einem Bounty Killer nicht sagen, der ein Leben lang nur Scheiße gesehen hat: „Jetzt sing doch mal was Nettes!“ Das ist ja auch sehr realitätsnah, was ich an der Musik ja auch liebe.

Was beschäftigt dich im Moment am meisten?

Die Entwicklung meines Sohnes. Der ist jetzt neun und ich bin nah dran, telefoniere täglich mit ihm und sehe das Umfeld von ihm. Man geht immer mehr von sich selbst weg und es ist schon krass zu sehen, was auf dem Schulhof von einem Neunjährigen passiert. Oder auch wenn man auf den Elternabend geht, wie resignierend manche Eltern sind. Wie sie teilweise nervlich verwahrlosen in der sozialen Kälte und gar keine Kraft haben, den Kindern irgendetwas mitzugeben.

Mit dem Gefühl, dass Gentleman an der Welt dran ist und somit berufen scheint, Ansichten darüber zu formulieren, um womöglich Aussichten und –wege zu eröffnen, endet das Gespräch; denn die Dame vom Kurier steht schon in der Tür.

Das neue Album von Gentleman "Diversity" erscheint am 9.April via Universal.

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