Leitweber: Intelligentes urbanes Leben in Temeswar, der Kulturhauptstadt 2021

2021 wird Temeswar – völlig zurecht – europäische Kulturhauptstadt sein. Das große Herausputzen hat längst begonnen. Schon heute ist ein Besuch in der westrumänischen Studentenstadt eine Reise in die Zukunft: In ihr gibt es intelligentes urbanes Leben weitgehend ohne Print-Medien.

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© Thomas Weber fotografiert von Jürgen Schmücking

Kaum ein Lokal in Temeswar hält für seine Gäste Zeitschriften und Magazine parat. 2014 war mir das – erstmals ein paar Tage in der westrumänischen Stadt – noch nicht aufgefallen. Im Spätherbst 2016 – die Stadt hatte sich in den zurückliegenden 24 Monaten ordentlich herausgeputzt, man muss sogar sagen: sich prächtig entwickelt; soeben war die Entscheidung gefallen, dass die Bewerbung als europäische Kulturhauptstadt 2021 erfolgreich war – da war die Sache plötzlich offensichtlich. Überall frische Cafés, renovierte Restaurants, Bars, Beisln und Bierhäuser, neu eröffnete Konditoreien, die sich als kitschige Concept Stores für den Zuckerschock inszenieren – aber nirgendwo Zeitschriften oder Magazine. Nicht mal das sonst in aller Welt beliebte Hochglanzwerbeumfeld mit PR-Geschreibsel zwischen den Produktplatzierungen. Nix davon.  Auch wenn vielen bei uns die knappe sechs Autostunden von Wien entfernte Stadt (noch) nichts sagt: Temeswar ist kein beschauliches rumänisches Provinzstädtchen, sondern eine Studentenstadt. Eine Stadt, im Vergleich zu welcher das 2003 Kulturhauptstadt gewesene Graz – selbst was das kulturelle Angebot angeht – plötzlich sehr „steirisch“ wirkt. Von Linz (2009 Kulturhauptstadt) gar nicht erst zu reden. An fünf Tagen im Oktober habe ich dort das erste Vest Fest (ein neues HipHop-Festival) besucht und drei internationale, zwei davon deutschsprachige Theaterproduktionen gesehen (eine davon vom Wiener Regisseur Volker Schmidt). Das Eurothalia Festival ist vergleichbar mit den Wiener Festwochen. Die Stadt hat – als einzige europäische Stadt – drei Nationaltheater (ein rumänisches, ein deutsches, ein ungarisches). Gleichzeitig waren die gerade stattfindenden Barockmusiktage, ein Kurzfilmfestival, Ausstellungen und Konzerte plakatiert.

Warum ich das alles erwähne: Temeswar ist wahrlich eine europäische Kulturstadt; hier nahm 1989 die rumänische Revolution ihren Anfang; hier gibt es auch traditionell eine gebildete Schicht, ein umfassendes kulturelles Angebot. Aber keinerlei nennenswerte Presse.

Cider per Tablet

Das muss einen wundern. Vor allem, weil es – auf Nachfrage bei Menschen, die hier leben, kulturell aktiv sind, sich engagieren – auch online kaum ein Angebot gibt. Dabei wäre das Stadtleben sonst höchst vital und auch die Werbewelt hyperaktiv. Nirgendwo sonst hätte ich anschaulicher gesehen, dass Cider gerade zum nächsten große Ding am Getränkemarkt hochgeschaukelt wird. Und die Bier- und Softdrinkkonzerne lassen keine Möglichkeit aus, sich ihre Marktanteile zu sichern. Gerade die schicksten Lokale listen ihr diesbezügliches Angebot nicht auf Speisekarten, sondern servieren ihren Gästen zum Gustieren ein Tablet. So ein Touchscreen verdreckt zwar schnell, suggeriert aber vor allem Modernität und vermittelt eine Ahnung davon, wohin wohl auch bei uns die Reise hingeht.

Zurück in Wien. Kaum ein Lokal, das halbwegs auf sich hält, hat für seine Gäste nicht auch ein paar Zeitschriften und Magazine parat. Die gern von Touristen aufgesuchte „Kaffeehauskultur“ mag diesbezüglich mancherorts ein wenig an Vielfalt eingebüßt haben. In den besseren Cafés der Stadt stapeln sich aber auch anno 2016 ganze Tische mit internationalen Zeitungen. Und wer sich im Prückel oder Weimar, im Armacord oder Sperl umschaut, der sieht dort klarerweise manche Zeitgenossen über Touchscreens wischen, aber auch: dass das Gedruckte gern gelesen wird. In den Vorstadtwirtshäusern sind internationale Titel spärlicher gesät, aber irgendwas zum Lesen findet sich immer. In den Lokalen der Stunde wiederum stapeln sich meist irgendwo im Eck kunstsinnigere Titel, Kulinarikheftl, vielleicht liegen wo ein paar alte Ausgaben Geo herum.

Ja, es ist kein Geheimnis, dass wir Österreicher im internationalen Vergleich überdurchschnittlich gern zu Print greifen. Ob das auch 2021 noch der Fall ist, werden wir sehen. Dass spätestens 2021 auch in Temeswar Gedrucktes kursiert, darauf würde ich allerdings wetten. Die Stadt entwickelt sich eben prächtig.

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