Nuller Konsens

The Gap hat Charts der Nuller Jahre gesammelt. Doch was sagen die Ergebnisse eigentlich über den Zustand der Musik aus dieser Zeit aus?

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Die Ergebnisse waren jetzt nicht so überraschend: Arcade Fire vor Radiohead und LCD Soundsystem. Ein System, das nach Überschneidungen im Geschmack fragt, wird immer Konsens hervorbringen. Es wird insgesamt nicht nach ästhetischen Leitlinien beurteilt, sondern die größte Schnittmenge ausgerechnet. Und das ist dann auch die Grundaussage einer Befragung von Musikexperten: das Ergebnis ist Konsens. Ein Konsens, der nur manchmal überrascht, der im Detail aber dennoch Aussagekraft hat.

Eine Frage, der wir uns von Anfang an stellen mussten: hat das Albumformat überhaupt noch Relevanz? Immerhin gehen Artists wie Radiohead und Nine Inch Nails schon länger Wege abseits des Albumformats, während Madonna und Jay-Z Alben und Singles ohnehin nur mehr als Promotiontool für Konzerte und diverse Marketingaktionen begreifen. Für elektronische Musik ist das Album ohnehin zunehmend Luxus und die Single bzw. der Track immer schon das entscheidende Medium gewesen, während Mixtapes in Baile Funk, HipHop und Techno so gerade noch in die Albumkategorie fallen. In harten Zahlen: Albumverkäufe sind ganz allgemein über die Nuller Jahre hinweg stark rückläufig gewesen, während die Single wieder – wie schon in den Fünfzigern und frühen Sechzigern – zum wichtigsten Umsatzträger wurde und damit auch zum eindeutig meistgehörten Format.

Dass insofern eine Radiostation wie FM4 ähnliche Diskussionen über das Album geführt hat, wundert bei diesem Medium, der Einzeltrackabspieltstation Radio, nicht weiter. Jemand wie Martin Blumenau hat deswegen auch erst gar keine Albumcharts abgeben, sondern den Artists hinter den Alben den Vorzug gegeben. Aber auch Simon Reynolds beobachtete für den Guardian eine schwindende Relevanz des Albums und ein zunehmende Fragmentierung des Musikmarkts. Was er über sich selbst und über die Pitchfork-Charts sagt, gilt auch für die Konsenscharts von The Gap: der Großteil der vorderen Plätze sind Alben, die aus der ersten Hälfte der Nuller Jahre stammen. Weil Alben da noch größere Relevanz hatten. Ganz analog zum der allgemeinen Tendenz weg vom Album ­­sind es bei den Singlecharts wiederum solche der letzten fünf Jahre, die am häufigsten abgegeben wurden. Es ist also kein Zufall und hat auch nichts damit zu tun, dass wir uns an die eine Zeit besser, an die andere schlechter erinnern, nein, sondern es spiegelt eine historische Tendenz wieder, dass die Album- und Singlecharts von The Gap so aussehen wie sie eben aussehen. Vom Album zur Single eben.

HipHop ist so eine Musik, die offensichtlich fast nur mehr über Singles wahrgenommen wird. Andere Clubmusiken wie Techno, Dubstep und Knartz-Rave sind offenbar so in Nischen gewandert, dass sich überhaupt keine signifikanten Singles mehr feststellen lassen. Videos scheinen als eigenständige, aufwändige Kunstform ohnehin passé, auch wenn Videos wie Beyoncés „Single Ladies“, Susan Boyles „I Had A Dream“ oder „Here We Go Again“ von OK Go so viel mehr als nur ein Promoclip zum Album und sich durch Youtube und Co auf diesem Sektor enorme Umwälzungen ergeben haben. Eventuell haben wir hier auch mit zu wenig Nachdruck gefragt.

Klassische Schwachpunkte solcher Umfragen: Lokale oder deutschsprachige Musik schaffte es leider kaum in die Köpfe der Stimmberechtigten (höchst erfreuliche Ausnahme auf Platz 7: Fennesz, der sich allerdings eher nicht als dezidiert österreichischen Musiker bezeichnen würde). Und mit M.I.A., Feist, Gustav und Peaches machen Frauen lediglich ein Viertel der Top20 aus. Musik von den Rändern eines Jahrzehnts – bei Jahrescharts auch eines Jahres – haben es außerdem besonders schwer (hätte etwa „69 Love Songs“ von The Magnetic Fields einen einheitlichen Releasetermin im Jahr 2000, wäre das Album weiter vorn gelandet). Ein weiteres Kuriosum solcher kanonischer Umfragen ist, dass Musik mit hohem Style und Gegenwartsfaktor tendenziell unter den Tisch fällt: Klaxons, Fischerspooner, Simian Mobile Disco, Franz Ferdinand, Robocop Kraus uvm. sind trotz künstlerischer und konzeptueller Dichte wenig im Bewusstsein geblieben. Wie auch Bands, die durch zweifelhafte Nachfolgealben auch ihre Hitalben subjektiv geschwächt haben. Denn anders ist das Fehlen von abgefeierten Artists wie Antony And The Johnsons, Maximo Park und Interpol schwer zu erklären.

Mittlerweile haben viele Magazine, Plattformen und Radios ihre Nuller Charts veröffentlicht. Mal wurden diese durch eine Redaktion einfach in den Raum geblasen, mal durch ein Publikum darüber abgestimmt oder – wie in unsrem Fall – Expertenmeinungen ausgewertet. Bei den unnachvollziehbaren Charts der Opinion Leader des Mica (Music Information Center Austria), wurden zumindest keine Journalisten aus dem Umfeld von The Gap gefragt. Wir konnten immerhin 29 Positionen für unser Vorhaben gewinnen und haben diese auch einzeln aufgelistet. Klarerweise haben wir deutlich mehr Leute angefragt. Durch Stress, Unlust, grundsätzliche Bedenken gegen Listen (z.b. hier von Walter Gröbchen) und scheinbar inaktive Mailadressen (der Standard, TV-ORF, etc) sind einige Personen, die die öffentliche Wahrnehmung von Popmusik deutlich mitbestimmen, ausgefallen. Trotzdem sind wir mit den Ergebnissen zufrieden. Die Listen der einzelnen Personen geben reichlich Stoff zum Schmökern und Nachhören her. Jene von GO TV und Superfly ordnen sich auf angenehme Art nicht in einen scheinbaren, alternativ-bürgerlichen Grundkonsens ein. Sie, die Charts der Einzelpersonen, sind auch deshalb das Herzstück dieser Charts der Nuller Jahre. Die Auswertung davon hat weder besonderen Anspruch auf Objektivität, noch soll sie einen Kanon der Nuller Jahre wiedergeben. Die ausgewerteten Charts von The Gap sind Konsens. Und der ist schon auch OK.

Einzelcharts heimischer Musikjournalisten

Andere Charts der Nuller Jahre (NME, Pitchfork, Guardian, Intro etc)

Auswertungskonsens

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