Der gekünstelte Fortschritt – Wie Entwicklungen aus der Kunst auf die Gesellschaft wirken

Kann Kunst die Welt verändern? Und wenn ja, inwiefern? Ist es schon eine beginnende oder laufende Revolution, wenn zwei Rapper diskriminierende Tracks aus ihrer Vergangenheit aus dem Internet nehmen? Die Rolle der sozialen Verantwortung in der Kunst und die daraus potenziell folgenden gesellschaftlichen Entwicklungen werden laufend diskutiert. Eine eindeutige Antwort auf offene Fragen zu finden, ist dabei nicht leicht. Die Betrachtung einer komplexen Verschränkung.

Nur, wie übertragt sich das im konkreten Fall auf die Kunst und die Betrachtung der davon ausgehenden Entwicklungen in der Gesellschaft? »Man müsste eine Kultur schaffen«, so Heidenreich, »in der man lernt, das zu hören, von dem man nicht weiß, dass man es überhört.« Was wir derzeit erleben, sei also das vermehrte Lärmmachen für die Entwicklungen, die bisher zu wenig Aufmerksamkeit erfuhren, deswegen würden quasi neuartige Verhaltens- und Handlungsweisen auch im Kunstkontext eher auffallen als gesellschaftlich Gewohntes. Das schafft Schwung zur Abgrenzung, eröffnet aber auch die notwendigen Aushandlungs­räume, in denen nachhaltige Entwicklungen erst entstehen können.

Bewusstseinswandel

Wie genau sich der Lerneffekt, der durch gesellschaftliche Einflussnahme aus der Kunst entspringen kann, bemerkbar macht, damit beschäftigen sich Louise Haitz, Universitäts­assistentin und Doktorandin der Medien­kultur­wissenschaft an der Uni Wien, und Lydia Kray, akademische Mitarbeiterin für europäische Medienwissenschaft an der Uni Potsdam. Die beiden kennen einander von gemeinsamer aktivistischer Arbeit, verstehen sich als queer und fokussieren nun auf die Forschung im Medienbereich. Als zentral sehen sie, wie Repräsentation in der Kunst »zur Kultur wird« und wo das in Forschung, Gesellschaft und Politik zu hoch oder zu niedrig bewertet wird. Dass ein Bewusstseins­wandel stattfindet, bestätigen sie einstimmig. Auch sie meinen, dass das prinzipiell für etwas Gutes zu halten sei, dass die tatsächliche Auswirkung aber stark von den Details abhänge.

»Der Spruch von wegen representation matters stimmt. Aber es kommt eben schon darauf an, wie das geschieht. Wenn es bei ›Germany’s Next Topmodel‹ ein Team Diversity gibt, aber weiterhin neoliberaler Wettbewerb, also subjektiver Konkurrenzdruck, die Botschaft der Show ist, kann ich das nicht als gut bewerten.« Man stelle sich die Welt durch einen Wechsel der Betrachtung anders vor, aber das sei erst der Anfang der Transformation, der einen längeren Lernprozess und vielfältige Kämpfe umfasst. Haitz weiter: »Kunst produziert auch affektives Wissen über mich und mein Verhältnis zur Welt und zu anderen. Natürlich macht es dann einen Unterschied, was ich mir ansehe und worum es in den Songs geht, die ich höre. Was sagt mir die Kunst, die ich konsumiere, darüber, wer ich bin, wer andere sind und wie wir einander begegnen können?«

Lydia Kray, akademische Mitarbeiterin für europäische Medienwissenschaft an der Uni Potsdam: »Das Problematische im Mainstream verschwindet nicht einfach, aber das Gegengewicht wächst.« (Foto: Lydia Kray)

Die Kritik, es handle sich um ein Phänomen, das bloß eine überschaubare Bubble betreffe, schmettert Kray ab: »Medien wie Youtube oder Netflix sind richtige Gamechanger, was die massen­mediale Verbreitung neuer Inhalte betrifft. Algorithmen zum Trotz: Dort findet Veränderung statt. Und das ist mitnichten elitärer Quatsch – im Gegenteil. Es gibt beispiels­weise gerade im Bereich des Hip-Hops enormen migrantischen und feministischen Output, der gerne gehört wird. Dort treffen marginalisierte Stimmen auf Gehör.« Es sei eben nicht selbstverständlich, dass anti­diskriminierende, queere oder sonstige bisher unter­repräsentierte Inhalte produziert und verfügbar gemacht werden. Esrap, Kerosin 95 und Ebow sind dabei nur drei lokale Beispiele für eine wachsende und lauter werdende Community.

Künstler*innen, die versuchen, ihr Verständnis einer neuen Gerechtigkeit durch ihre Arbeit in die Gesellschaft zu tragen, bewegen sich dabei nicht im luftleeren Raum, in dem man eine Gesellschaft nach Wunsch errichtet, sondern kämpfen gegen konkrete Gegen­strömungen. »Es gibt natürlich auch organisierte Trans-Feindlichkeit, organisierte Misogynie. Diejenigen, die mit umgekehrter Agenda agieren, wollen nämlich auch Geld und wissen, das Repräsentation etwas in den Köpfen von Menschen bewirkt«, erklärt Haitz.

Nachhaltige Veränderungen

Und wie kommen wir nun von einem aufkeimenden, neuen Verständnis innerhalb der Kunst zu nachhaltigen gesellschaftlichen Veränderungen? Medien­wissen­schaftlerin Kray meint: »Diese Frage ist so nicht zu beantworten. Ich glaube aber zutiefst daran, dass gute Geschichten die Welt verändern können und dass eben diese künstlerische und die daraus folgende politische Arbeit eine Bewusstseinsarbeit von Kollektiven und Einzel­menschen ist, die nach und nach etwas bewegt. Und das ist vermutlich der Antrieb für viele Leute, die versuchen, mit ihrer Kunst etwas zu verändern.«

Die Rapper Movski und Kaul Kwappen sehen die Veränderung der Welt allerdings trotz ihrer radikalen Eingriffe in die eigene Kunst nicht von dieser ausgehend: »Viel eher kann Musik den Soundtrack zu sozialen Kämpfen liefern, als Katalysator oder Treibstoff für die ganzen Bewegungen, die es in der Gesellschaft ohnehin schon gibt.« Das muss prinzipiell kein Widerspruch sein, bedingen und beeinflussen sich Kunst und Gesellschaft doch laufend gegenseitig.

Louise Haitz, Universitäts­assistentin und Doktorandin der Medienkultur­wissenschaft an der Uni Wien: »Was sagt mir die Kunst, die ich konsumiere, darüber, wer ich bin, wer andere sind und wie wir einander begegnen können?« (Foto: Louise Haitz)

Louise Haitz bewertet die Wahrnehmung der künstlerischen Verantwortung jedenfalls schon positiver: »Der Fall der beiden Rapper macht die Fragen, die wir uns stellen sollten, deutlich: Was ist normal? Was ist edgy? Wo­rüber wird gelacht und auf wessen Kosten passiert das? Sich für Fehltritte zu entschuldigen und Verantwortung zu übernehmen, kann man lernen, und das ist die große Hoffnung. Wir lernen eben auch Frauenhass, Homophobie, Trans-Feindlichkeit und so weiter. Wir können diese Dinge aber auch wieder verlernen. In unserem System, das auf eben diesen Diskriminierungen aufbaut, ist das bloß sehr schwer.«

Dass eine Umordnung am Ende mehr heißen muss als bloße Repräsentation und guter Wille, nachdem Input von außen folgte, liegt dabei auf der Hand. Dass dieser Prozess einen langen, kleinteiligen und ungeraden Weg bedeutet, ebenfalls. Und auch wenn antidiskriminierendes Verhalten und Reflexion über die Kunstschiene – und natürlich auch über andere gesellschafts­bildende Bereiche – weiter Einzug halten, bedeutet das noch lange nicht, dass ein Ende in Sicht wäre. »Dann steht nämlich die Frage an: Wie viel meines Raums und meiner Privilegien bin ich bereit aufzugeben, um tatsächliche und real spürbare Änderungen zu ermöglichen?«, meint Kray, die abschließend zusammenfasst: »Entwicklungen hin zu einer Kunst, die nicht ständig marginalisierte und diskriminierte Personen beleidigt und attackiert, sind natürlich gut. Man muss aber auch nicht glauben, dass dadurch das, was im Mainstream nach wie vor an Problematischem passiert, einfach verschwindet oder er über Nacht weniger homophob oder trans-feindlich wird – aber das Gegen­gewicht wächst.«

Zur weiter­führenden Information empfehlen Nanna Heidenreich, Louise Haitz und Lydia Kray den Text »Queering Homophily« von Wendy Hui Kyong Chun, die Dokumentation »Horror Noire: A History of Black Horror« und den Ted-Talk »The Danger of a Single Story« von Chimamanda Ngozi Adichie.

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