Wien, Ende der 1920er-Jahre. Zwischen den Weltkriegen, zwischen Inflation und Wirtschaftskrise lässt es sich in Wien immer noch gut urlauben. Der Reprint eines Reiseführers gibt Einblicke.
Ende der 1920er-Jahre startete der Piper Verlag eine Buchreihe namens »Was nicht im ›Baedeker‹ steht«. Marketingtechnisch eine kluge Idee: Damalige Bildungsbürger*innen und Tourist*innen kannten die Baedeker-Reiseführer, die bereits seit den 1830er-Jahren erschienen, und die sich durch einen sachlichen Stil auszeichneten. Die »Was nicht im ›Baedeker‹ steht«-Reihe stellte dem eine lockere, humoristisch-feuilletonistische Herangehensweise an das Reiseziel entgegen.
Als zweiter Band der Reihe erschien 1927 Ludwig Hirschfelds Buch über Wien. Hirschfeld, 1882 ebendort geboren und aufgewachsen, war unter anderem Schriftsteller, Übersetzer, Bühnenautor und arbeitete als Redakteur bei der Neuen Freien Presse, wo er jahrelang über die Stadt berichtete. Die Startauflage seines Wienführers betrug aus heutiger Sicht unglaubliche 20.000 Exemplare. Der Milena Verlag hat ihn nun in einer Neuauflage herausgebracht.
Kein klassischer Reiseführer
Schon nach wenigen Seiten wird klar: Das ist kein klassischer Reiseführer, der sich mit (Jahres-)Zahlen, Daten und Fakten an Bauwerken und Sehenswürdigkeiten abarbeitet, sondern eine launige Erzählung über die Stadt Wien und alles, was man über ihre Bewohner*innen, Sitten und Gebräuche, (sub-)kulturellen und kulinarischen Einrichtungen wissen sollte.
»Die Ankunftsseite sieht fast in einer jeden Großstadt so aus wie in der anderen. Es ist also ganz egal, auf welchem Bahnhof Sie in Wien ankommen, Westbahnhof, Südbahnhof, Ostbahnhof, Nordbahnhof oder Franz-Josefs-Bahnhof, es ist überall ungefähr dasselbe. (…) Vor allem rufen Sie mit kräftiger Stimme: ›Träger!‹ (…) Der Träger spricht die Landessprache, nämlich heftigen Wiener Dialekt, dessen Beherrschung man in Wien bei allen Fremden voraussetzt. Wenn er fragt: ›Habns a großes a?‹, so meint er damit das große Gepäck.«
Autoverkehr in der Kärntner Straße
Hirschfelds Schilderungen sind vor allem eine fantastische Zeitreise in ein längst verschwundenes Wien: Ende der 1920er erfolgte die Anreise natürlich per Bahn. Von den damals bestehenden zahlreichen Wiener Fernreisebahnhöfen, ehemals Kathedralen des Reisens, steht heute kein einziger mehr im Original. Es gibt keine Gepäckträger mehr am Bahnhof, keine Fiaker, die vor dem Bahnhof warten (obwohl die Ende der 1920er schon am Verschwinden sind – man fährt bereits auch mit dem Autotaxi).
Wir lesen über Wirtshäuser, die es längst nicht mehr gibt, und Autoverkehr in der Kärntner Straße. Als wichtigste Informationsquelle dienten Zeitungen, die nicht nur täglich, sondern sogar mehrmals täglich erschienen. Noch immer wehte Ende der 1920er ein Hauch von Habsburg durch Wien, wenn von alten Aristokraten, ehemaligen Erzherzögen und Offizieren der K.-u.-k.-Armee die Rede ist, die sich immer noch durch die Stadt bewegen.
Von Beisln bis Bäder
Amüsant führt Hirschfeld durch Restaurants, Beisln, Heurigen und Bars, klärt über Tücken im Umgang mit der Stadt und ihren Bewohner*innen auf, stellt die wichtigsten Akteur*innen aus Politik, Kultur und Gesellschaft vor, präsentiert die wichtigen Theater – vom Burgtheater bis zur Kabarettbühne – und die wichtigsten Geschäfte aller Art. Er empfiehlt Ausflüge in die nähere Umgebung der Stadt, stellt die Wiener Bäder und Bademöglichkeiten, den Prater und natürlich die Kaffeehäuser vor:
»So leben wir alle Tage. Nämlich im Kaffeehaus. Von acht Uhr früh bis zwei Uhr nachts spielt sich hier ein wesentlicher Teil des Wiener Lebens ab. Hier werden die Meinungen gebildet, die Gemeinplätze und manchmal auch die Gemeinheiten. Hierher kommt man immer wieder und bei jedem Anlass: weil man verbittert oder glänzend gelaunt ist, weil’s einem schlecht oder zu gut geht, weil man Hunger hat oder zu satt ist.«
Für sein Alter erstaunlich frisch
Das alles schafft er in einem lockeren Erzählton, mit einem Augenzwinkern und einem ironischen Unterton. Dafür, dass der Text fast 100 Jahre alt ist, ist er erstaunlich frisch und großteils tatsächlich äußerst amüsant zu lesen. Krasse Ausnahme bildet Hirschfelds Frauenbild, das (wohl selbst für die 1920er) reichlich sexistisch und voller Klischees ist.
Aus heutiger Sicht hat der Reiseführer allerdings ein bedrückendes Element: Viele der erwähnten prägenden kulturellen und gesellschaftlichen Persönlichkeiten, vor allem die jüdischen Bewohner*innen der Stadt, mussten 1938 das Land verlassen oder kamen in der nationalsozialistischen Vernichtungsmaschinerie zu Tode. So auch der Autor, der mit Frau und den beiden Kindern im Holocaust ums Leben kam.
»Wien. Was nicht im Baedeker steht« von Ludwig Hirschfeld ist im Milena Verlag erschienen. Vor Kurzem ist auch Ludwig Hirschfelds »Wien in Moll – Ausgewählte Feuilletons 1907–1937« neu aufgelegt worden. Und der »Baedeker« erscheint auch heute noch. Hier geht es zur aktuellen Auflage des »Baedeker Reiseführer Wien«.