Mental Health im Pop – Wie krank ist die Musikbranche?

Am 10. Oktober 1992 fand der erste World Mental Health Day statt. Knapp 30 Jahre später liegt wie so oft die Frage nahe, was sich zwischen der frühen Bewusstseins­bildung und der heutigen Zeit zum Positiven verändert hat. Auch in der oberflächlich schimmernden Popwelt wird immer deutlicher, dass die psychische Belastung die Prophylaxe überwiegt. Über Ursachen, Auswirkungen und was sich ändern muss.

© Melanie Ludwig

»Derzeit würde ich gern ein Wochenende haben – auch, wenn es an Werktagen stattfindet. Hauptsache, mal wieder ausschlafen«, klagt Daniela Weinmann aus dem Chat-Fenster. »Ich hoffe, es stört dich nicht, wenn ich nebenbei frühstücke«, fragt Sophie Lindinger zu Beginn des Online-Interviews, in dem sie später auch Musikpublikationen für den aktuellen Zustand der Popbranche verantwortlich machen wird. Hört man auf die zwei Musikerinnen, ist dieser derzeit kein guter.

Stressige Arbeitsbedingungen, permanente Erreichbarkeit und mangelnde Beratungs- und Hilfsangebote machen den Job auf der Bühne auf Dauer zu einem Kraftakt, oft ohne nötigen Ausgleich. Die Pandemie wird dabei nicht als Ursache, sondern vielmehr als die aktuellste Sichtbarmachung bezeichnet. Eine Branche beginnt ihre Schwächen zu erkennen, Individuen können und wollen dem Druck nicht mehr standhalten. Damit sind sie nicht alleine – Labels, Agenturen und Medien teilen sich den Platz auf diesem sinkenden Schiff. Aber der Kurs ist noch zu ändern.

Melancholie × Druck

Ende August erschien mit »Longest Day of My Life« jene EP von Leyya, neben My Ugly Clementine eines der Hauptprojekte von Sophie Lindinger, die gleich mehrere Wendepunkte markierte: So offen wie noch nie spricht Lindinger in den Songs, auf Social Media und in den Interviews zur Veröffentlichung über ihren psychischen Gesundheitszustand – genauer: ihre Depression. Außerdem wird Leyya auf unbestimmte Zeit nicht mehr live, sondern ausschließlich im Studio passieren. Eine notwendige Entscheidung, wie Lindinger wissen lässt.

»Derzeit würde ich gern ein Wochenende haben – auch, wenn es an Werktagen stattfindet.« — Daniela Weinmann, Odd Beholder (Foto: privat)

Fragt man nach den vermuteten Ursachen und dem Verlauf ihrer Krankheit, holt sie weit aus. Schon immer habe sie in ihrem Charakter eine gewisse Melancholie getragen. Heute eröffnet sie, dass sie sich vermutlich früher mit der eigenen Psyche auseinandergesetzt hätte, wäre der gesellschaftliche und brancheninterne Umgang mit psychischen Krankheiten ein anderer gewesen – kaum jemand sei je offen damit umgegangen.

Vor zwei Jahren war Lindinger erstmals an einem Punkt, an dem sie nicht mehr weitermachen konnte und sich professionelle Hilfe holte. Nach und nach spricht sie offener darüber. Unter einem aktuellen Social-Media-Posting, in dem sie die Situation durch intime Einblicke erklärt, fragt ein Fan in den Kommentaren, wann denn endlich das nächste Album erscheine. Ebenfalls symptomatisch für ein größeres Problem.

Vereinigt euch!

»Es wird leider immer noch viel zu sehr unterschätzt, wie wichtig die psychische Gesundheit ist«, beklagt der Berufsverband Österreichischer PsychologInnen (BÖP) in einer Presseaussendung. Demnach seien bis zu fünf Prozent der österreichischen Gesamtbevölkerung von einer psychischen Erkrankung in schwerem Ausmaß betroffen. In absoluten Zahlen sind das rund 442.000 Menschen. Zwei Drittel der Frühpensionierungen resultieren aus psychischen Erkrankungen. Die Aussendung stammt aus dem Herbst vor der Coronapandemie. Dass diese für den globalen Gesundheitszustand nicht förderlich war, liegt auf der Hand. Dass die Auswirkungen bei jenen Menschen besonders spürbar wurden, die dem längsten Berufsverbot ins Auge blickten, ist eben­falls bekannt.

Die Schweizer Musikerin Daniela Weinmann alias Odd Beholder betätigt sich neben der Musik in der Initiative Music Declares Emergency. Einer Kampagne, die auf die fortschreitende Zerstörung der Umwelt aufmerksam macht, dabei aber auch anerkennt, dass die Musikwelt zusätzlich mit internen Marotten zu kämpfen hat. Hinsichtlich der hohen Belastung in der Popbranche macht Weinmann vier wesentliche Punkte fest: hohen Druck durch einen Selbstanspruch, der vor allem von Social Media und vom permanenten vereinzelten Wettbewerb angefeuert wird, finanzielle Prekarität und das Leben in unmöglichen ökonomischen Konstruktionen, die gesellschaftliche Geringschätzung der Kunst und die fehlende medizinische Versorgung mangels finanziell unterstützten Krankenstands bei Selbstständigkeit.

Fast wortgleich erzählt Sophie Lindinger vom Gefühl des Auf-der-Strecke-Bleibens, das ein ständiger Begleiter sei. Mal verstärkt durch das Management, das ein Medieninterview während eines Leyya-Besuchs in New York dermaßen kurzfristig beantwortet haben will, dass der Touri-Trip zur Freiheitsstatue zur Nebensache wird, mal durch die artikulierten Sorgen des Labels, Acts könnten in der Bedeutungslosigkeit verschwinden, wenn sie trotz persönlicher oder globaler Krisen nicht weiterhin veröffentlichen.

»Der Erfolg ist es nicht wert, dass meine mentale Gesundheit darunter leidet.« — Sophie Lindinger, Leyya (Foto: Hanna Fasching)

Weinmann und Lindinger sind sich bewusst, dass sie dabei aus privilegierten Positionen sprechen. Sie können zwar von ihrer Musik leben, wie es so gerne romantisierend genannt wird, lehnen die Umstände, mit denen sie leben allerdings mittlerweile rigoros ab. Sie wollen etwas verändern, psychische Belastungen und Krankheiten zuerst normalisieren, um schlussendlich früher und besser damit umgehen zu können. Den Weg zu diesem Ziel beschreiten sie dia­metral anders.

Es sind Streikgedanken, die Weinmann und Lindinger äußern. Der Begriff »Unionisierung« klingt aus dem Mund der Schweizerin voller Tatendrang. Man müsse sich zusammenschließen, erkennen, dass man in dieser Situation nicht alleine sei. Es sei an der Zeit, jene Handlungsräume zu eröffnen, die das Problem von der individuellen auf eine kollektive Ebene heben. Denn so ließe sich genug Druck aufbauen, um die Politik, die schließlich an den längeren Hebeln, nämlich jenen der konzentrierten Macht sitze, zum Handeln zu zwingen und der breiten Masse, den Leuten, die tagtäglich Kunst konsumieren, ohne ihre Wichtigkeit anzuerkennen, eben jene Systemrelevanz ersichtlich zu machen.

Ein Punkt, den auch Lindinger macht, allerdings ist sie weitaus pessimistischer: »Es wird genauso weitergehen. Ein paar können es sich leisten, sich den Platz zu nehmen, und werden den auch einfordern, aber junge Künstler*innen werden keine andere Wahl haben, sich diesem Rad der Ausbeutung zu entziehen«, sieht sie die kollektive Aktion in Gefahr: »Agenturen und Medien spielen ebenfalls nicht mit. Es müssten alle machen, aber das wird es nicht spielen.« Dass sie damit Recht haben könnte, wird im Gespräch durch ein kurzes, unangenehm berührtes Lächeln spürbar. Immerhin saß sie noch vor einigen Minuten mit der Müslischüssel vor ihrem Bildschirm.

Ressourcen statt Resignation

Während einige den Drang spüren, innerhalb der Branche etwas zu ändern, haben andere die neoliberale Spielart des kapitalisierten Pop offenbar bereits als gegeben akzeptiert. Der US-amerikanische Musiker Andrew Choi aka St. Lenox argumentierte etwa kürzlich auf seinem Blog, dass Selbstsuffizienz im Musikbusiness bedeute, seinen day job zu behalten.

Arbeiten, um Kunst machen zu können? Arbeiten, um zu arbeiten? Klar, es ist bloß vernünftig, Handlungswege innerhalb der aktuellen Lebensrealität zu suchen. Aber ist die Kapitulation vor der allumfassenden Selbstausbeutung tatsächlich eine Lösung?

Es drängt sich die Frage auf, wie sehr die Musikbranche tatsächlich für ihre Akteur*innen – die künstlerischen wie die ökonomischen – funktioniert oder inwiefern sie eher kränkelnd dahinsiecht. Während gerade im Pop so gerne über Aufstieg und Erfolg gesprochen wird, als wäre es der realistischere Vorgang, sind nicht-erfolgreiche Musiker*innen wesentlich in der Überzahl. Und um genau die solle es gehen, meint Weinmann, wenn sie eines Perspektivenwechsel der Branche fordert. Im Fokus sollen zukünftig nicht nur jene stehen, die glücklicherweise zur richtigen Zeit am richtigen Ort waren, sondern jene, die ganz unten stehen.

Aber Sicherheit entspringt nicht bloß aus Erfolg, weiß Stephan Mantsch, Psychologe sowie Instrumental- und Gesangspädagoge. Er behandelt nicht nur in seiner Praxis als Psychotherapeut, sondern hat seit 2016 auch einen Lehrauftrag für das Fach Musiker*innen-Psychologie an der Universität für Musik und darstellenden Kunst Wien inne. Ein Pflichtfach für Absolvierende einer klassisch-institutionellen musikalischen Ausbildung, wie sie im Pop eher Ausnahme als Regel ist.

Er eröffnet, dass psychische Probleme gesamtgesellschaftlich einen Anstieg verzeichnen und nicht der Musikbranche eigen sind. So weit, so klar. Mantsch sieht überdies, dass im Vergleich mit der informellen Popwelt in der Klassik weitaus bewusster mit der Musiker*innenpsyche umgegangen wird. Seine Lehrveranstaltung ist verpflichtend, die Studierenden können auf psychosoziale Beratungsangebote zurückgreifen und befassen sich auch im Rahmen ihres musikalischen Schaffens mit Herausforderungen für die Psyche. Denn: »Es ist wichtig, Musiker*innen klarzumachen, dass sie auf sich selbst schauen dürfen. Dabei kann der Glaubenssatz helfen, dass nicht nur Üben am Instrument ein Trainieren des eigenen Kunstschaffens ist. Auch sich um seine eigene Gesundheit zu bemühen, ist Arbeit an der eigenen Kunst, denn sie ist die Grundlage, um freier und kreativer gestalten zu können.«

Aus therapeutischer Sicht schränkt es die eigene Handlungsfähigkeit ein zu warten, bis der Kapitalismus abgelöst wird.« — Stephan Mantsch, Psychotherapeut (Foto: privat)

Also was kann man als einzelne Person im Popbusiness tun, um in puncto psychische Krankheiten nicht nur Awareness und Normalisierung, sondern bestenfalls im Zusammenschluss mit anderen eine Trendumkehr zu erwirken? Mit einer oberflächlichen Kapitalismuskritik will sich weder Mantsch noch dieser Text zufriedengeben. Dennoch sei sie angebracht, meint Mantsch: »Nicht alles liegt in der Verantwortung des Individuums. Aus therapeutischer Sicht schränkt es allerdings die eigene Handlungsfähigkeit ein zu warten, bis der Kapitalismus abgelöst wird. Das ist eine schwierige Alternative.« Eine gesündere Betrachtungsweise sei es, sich der eigenen Gestaltungsmöglichkeiten bewusst zu werden.

Keine Alternative

Beate Wimmer-Puchinger, Präsidentin des österreichischen Berufsverbands für PsychologInnen, schreibt: »Erstens müssen psychische Erkrankungen stärker in den Fokus gerückt und mehr Wissen über psychische Erkrankungen verbreitet werden. Zweitens muss psychische Behandlung für jede*n leistbar sein. Und drittens müssen wir psychische Versorgung in Österreich neu denken, und dazu gehört, dass die psychologische Therapie endlich auch Kassen­leistung wird!«

Es gelte, wie Weinmann meint, schlussendlich positive Entwicklungen politisch zu manifestieren. Durch Subventionen, Gewerkschafts­bildungen und nicht zuletzt gesetzliche Rahmen­bedingungen. Das österreichische Gesundheits­ministerium unterhält eine »nationale Strategie zur psychischen Gesundheit« – auch hier ließe sich wohl ansetzen. Das Problem scheint bekannt, aber als zu nebensächlich wahr­genommen zu werden.

Für Sophie Lindinger hat es Druck rausgenommen, Leyya ins Studio zu verlagern. »Der Erfolg ist es nicht wert, dass meine mentale Gesundheit darunter leidet.« Und für die wichtigen ersten Schritte braucht es wohl auch gar nicht alle, sondern schlicht nur genügend Menschen, die sich zusammenschließen. Daniela Weinmann beendet das Gespräch mit einem etwas kitschigen, aber dennoch kämpferischen Aufruf, der ebenso auch im Umweltaktivismus Platz fände: »Es braucht vor allem dich, jetzt! Wie viele wir sind – das müssen wir loslassen. Es kann sein, dass es die Mehrheit nicht fühlt. Es kann sein, dass wir es nicht schaffen, unsere Forderungen umgesetzt zu sehen. Aber irgendwie müssen wir uns damit abfinden – es ist keine Alternative, nichts zu tun.«

Unter kriseninterventionszentrum.at finden sich Ressourcen und Kontakte zur akuten psycho­logischen Beratung, die auch anonym beansprucht werden können. In dringenden Fällen kann man sich auch an die Telefon­seelsorge unter 142 oder in Wien an den sozial­psychiatrischen Notdienst unter 01 / 313 30 wenden.

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