Music Cities und die Krise – Städtische Stabilität durch umfassende Musik-Ökosysteme

Man solle Musik nicht nur feiern, sondern auch ihren gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Stellenwert erkennen – und angemessen in sie investieren, meint Shain Shapiro. Als Experte für Music Cities hat er ein Handbuch zum Umgang mit der Corona-Krise und zur Stärkung der Widerstands­fähig­keit von Städten herausgegeben, über das er auch im Rahmen der Waves Conference sprechen wird.

© Markus Raffetseder

Wir stellen uns die Stadt der Zukunft mit mehr Fahrrädern und weniger Autoverkehr, mit reinerer Luft, weniger Umweltsünden und einer größeren Diversität unter den EntscheidungsträgerInnen vor. Wieso soll es dann nicht möglich sein, Städte auch dahingehend weiterzudenken, wie sie mit Musik und Kultur umgehen und welchen Stellenwert sie diesen in politischen Beschlüssen einräumen? Diese Frage stellen die einleitenden Seiten des »Music City Resilience Handbook«.

Es ist keine theoretische Frage, sondern eine, mit der sich das Unternehmen Sound Diplomacy in seinem Tages­geschäft auf praktische Weise auseinandersetzt. Dieses berät weltweit Städte und Regionen – von Huntsville im US-Bundesstaat Alabama bis zur litauischen Hauptstadt Vilnius – hinsichtlich der wirtschaftlichen Wachstumsmöglichkeiten, die sich durch einen nachhaltig-strategischen Umgang mit der Musik- sowie der Nachtwirtschaft bieten.

Für das oben zitierte Handbuch hat Sound Diplomacy neun Empfehlungen ausgearbeitet, um – insbesondere in der aktuellen Krise – die Stabilität und Widerstandsfähigkeit von Städten durch bessere Musik-Ökosysteme zu stärken. Das zugrundeliegende Paradoxon: Ein kontinuierlich steigender Kulturkonsum steht dem Faktum gegenüber, dass viele Kulturschaffende ihren Lebensunterhalt mit ebendiesem Schaffen nicht ausreichend bestreiten können, nicht nur, aber eben gerade auch während der Corona-Pandemie.

Gedacht als erste Impulse für einen anhaltenden Entwicklungsprozess reichen die Vorschläge des Handbuchs von Hilfsprogrammen für Kulturschaffende über die Diversifizierung des Musikunterrichts bis hin zur Berücksichtigung von Musik und Kultur bei Infrastrukturplänen. Wir haben Sound-Diplomacy-Gründer und -Geschäftsführer Shain Shapiro in seinem Homeoffice in London per Videochat zum »Music City Resilience Handbook« befragt.

Kannst du zum Einstieg erläutern, was du unter einer Music City verstehst?

Shain Shapiro: Eine Musik City ist eine Stadt, die Musik vorsätzlich und wohlüberlegt als Teil ihrer Politik behandelt. Und zwar in jeder Hinsicht. Es geht darum, Musik als Ökosystem zu betrachten, das sich quer über die Bereiche Bildung, Tourismus, Arbeitsplatzschaffung und -attraktivität bis hin zur sozialen Kohäsion und Inklusion erstreckt. Eine Music City hat ein breites Verständnis vom wirtschaftlichen und sozialen Wert, den Musik in einer Stadt haben kann. Und sie hat die Datenbasis, um diese Herangehensweise zu unterstützen.

Wurde dieses Konzept von Sound Diplomacy entwickelt?

Ja, genau. Um ehrlich zu sein, wir haben es aus einer gewissen Frustration heraus entwickelt, aus dem Glauben, dass allgemein der Wert, den Musik für eine Community haben kann, nicht ausreichend ausgeschöpft wird. Manchmal feiern wir die Musik, aber wir investieren nicht in sie. Es geht um die Überzeugung, dass Musik ein inhärenter Zusatzwert ist, der nichts von etwas anderem wegnimmt – solange man die Sache strategisch angeht.

Gibt es Städte, für die sich euer Ansatz nicht eignet? Braucht es etwa eine gut entwickelte Musikszene?

Das denke ich nicht. In jeder Stadt gibt es Menschen, in jeder Stadt gibt es daher auch Musik. Diese kann man wie jeden anderen Wirtschaftszweig behandeln. Wo es Schulen gibt, gibt es zum Beispiel irgendeine Form der Musikausbildung. In jeder menschlichen Ansiedlung – egal wie groß oder klein sie sein mag – findet Musik statt. Es ist ein wenig so, als wüsste man von einer Mine voller Gold, würde dieses aber nicht abbauen … Und Musik kann im Verlauf der Zeit viel wertvoller sein als Gold.

Auf welche Weise können Städte von dieser Herangehensweise profitieren?

Ganz vorne steht sicher das Thema City Branding (der Ansatz, eine Stadt als Marke aufzubauen; Anm. der Red.). Aber etwa auch die Bindung von Arbeitskräften, vor allem von jungen. Wenn man eine blühende Musikszene und Nachtwirtschaft hat, kommt es zu weniger Abwanderung. Das zieht wiederum Investitionen von Unternehmen an, weil diese natürlich wollen, dass ihre Beschäftigten nach 18 Uhr noch etwas unternehmen können.

Das Konzept ist noch recht jung. Ist es schon möglich, seinen Erfolg zu messen?

Man kann den ökonomischen Output in der Musikwirtschaft messen oder wieviel Musik geschaffen wird, ob Venues auf- oder zusperren – wobei Covid hier aktuell natürlich eine Rolle spielt. Sehr viele Musikszenen stehen gerade unter großem Druck. Auch weil Musik nicht wie andere Sektoren als Wirtschaftszweig verstanden wird.

Was uns zum »Music City Resilience Handbook« führt. Dessen Ansatz ist es, Städte dabei zu unterstützen, gestärkt aus der Krise zu kommen.

Genau. Ich denke, Städte, deren Wirtschaft stark auf Wissen und geistigem Eigentum aufbaut, sei es Technologie oder Kultur, werden sich schneller wieder erholen. Städte, die in Kultur und Kreativität investieren, werden attraktiver sein als Wohnorte. Insbesondere mittelgroße Städte, die leistbarer sind als die großen. In einer Zeit, in der man in vielen Branchen von überall aus arbeiten kann, haben besonders diese Städte die Möglichkeit, aus Musik, Kultur und Wissen Kapital zu schlagen.

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