Muttersprachenpop – die wichtigsten Veröffentlichungen im Februar 2023

Deutschsprachiges zwischen Euphorie und Kapitulation, zwischen Pathos und Befindlichkeit. Ausgewählt von Dominik Oswald. Die wichtigsten deutschsprachigen Neuerscheinungen im Februar 2023. Mit Charlotte Brandi, Team Scheisse, Schrottgrenze, Rolf Blumig, »Sex mit Bekannten (Teil II)« und mehr.

© Annika Weertz — Charlotte Brandi

Team Scheisse – »042124192799«

Team Scheisse © Team Scheisse
Team Scheisse © Team Scheisse

Die Bremer Punks waren 2021 – wer erinnert sich? – die Darlings der deutschsprachigen Musikpresse. Auf ihr, und ihr lest es auch hier, famoses Debüt »Ich habe dir Blumen von der Tanke mitgebracht (jetzt wird geküsst)«, das – und das war eines der großen Themen damals – beim Hip-Hop-Label Soulforce / Kitschkrieg erschien, konnten sich alle einigen, vor allem der Hit über einen einsamen und deshalb nur halbseriösen »Karstadtdetektiv« ging durch die Decken der Republiken. Die Frage, ob selbiges für den Nachfolger mit Bremer Telefonnummer (Alter, ruf mich auf mein’ Handy an!) im Titel gilt, mag zwar berechtigt sein, grenzt aber direkt an Majestätsbeleidigung, weil natürlich ist das alles wieder ziemlich großartig, fast absurd gut, oder wie – Achtung, Spuren von Qualitätsrecherche! – Youtube-User Rontano unter dem ebenso fantastischen Video zu »Schmetterling« schreibt: »Geht mir auf den Sack, dass ihr so gut seid!« Team Scheisse ist gnadenlos treibender, tanzbarer und kopfnickender Postpunk mit einer derart pointierten Storytelling-Qualität in den Lyrics. Vordergründiger Quatsch, aber mit Message! Weltscheibe!

»042124192799« von Team Scheisse erscheint am 24. Februar 2023 bei Soulforce / Kitschkrieg. Am 14. Oktober ist die Gruppe im Wiener Flex live zu sehen. Hier kaufen.

Schrottgrenze – »Das Universum ist nicht binär«

Schrottgrenze © Chantal Pahlsson Giddings
Schrottgrenze © Chantal Pahlsson Giddings

Was 2017 nach einer zehnjährigen Pause mit »Glitzer auf Beton« begann und 2019 mit »Alles zerpflücken« in die nächste Runde ging, findet nun mit »Das Universum ist nicht binär« seinen vorläufigen Abschluss und sogar vorläufigen Höhepunkt – die selbstbenannte »queere Trilogie« der Gruppe Schrottgrenze. Auch auf dem insgesamt zehnten Album gibt es fein säuberlichen Power-Pop mit bisweilen großer Geste, aber immer mit Haltung statt Pose zu hören, das zeitgenössische Songmaterial schießt elaboriert gegen das Patriarchat, gegen dessen Verfechter*innen – wobei, es sind ja fast nur Männer – genauso wie gegen dessen Leugner*innen und deren, wie es heißt, »toxischer Positivität«. Außerdem appellieren Schrottgrenze wiederholt und notwendigerweise eindringlich für Allyship für LGBTQIA+-Personen und richten sich – in klarer Abgrenzung zu heteronormativen Liebesliedern – auch mit romantischen Inhalten an eine Zielgruppe, die genau darauf keinen Bock mehr hat. Take that, boomer!

»Das Universum ist nicht binär« von Schrottgrenze erscheint am 10. Februar 2023 bei Tapete Records. Aktuell keine Konzerttermine für Österreich. Hier kaufen.

Rolf Blumig – »Zirkus Blumig«

Rolf Blumig © Omid Arabbay
Rolf Blumig © Omid Arabbay

Definiere Zirkus: »Ein Unternehmen, das meist in einem großen Zelt mit Manege Tierdressuren, Artistik, Clownerien u. Ä. darbietet« – und das trifft es auch ganz gut für das neue, dritte Album des Leipziger Ausnahmekünstlers Rolf Blumig. Gar spielerisch einfach balanciert er auf den zehn Tracks zwischen Wow und Abgrund, verkörpert lyrisch tendenziell den Dummen August als den traurigen Clown – wobei er wie jeder gute Held manchmal auch ein Anti- ist. Passend dazu – und wir können festhalten, das »Zirkus-Feeling« kommt vor allem daher: das Klangbild, das im Großen und Ganzen mit dem beliebten Adjektiv »weird« umschrieben werden könnte. Eine seltsame Mischung aus Psychedelic Rock, Art-Rock, Glam, Latin Jazz, Piano-Balladen, Fanfaren, irgendwo zwischen Frank Zappa, David Bowie und ganz viel kakofonischer Dissonanz angesiedelt. »Zirkus Blumig« strotzt nur so von Ideenreichtum, und selbst wenn dieser Mann damit nicht viele in seinen Zirkus locken kann: Die Zelte abreißen wird er auch nicht müssen.

»Zirkus Blumig« von Rolf Blumig erscheint am 24. Februar 2023 bei Staatsakt. Aktuell keine Konzerttermine für Österreich. Hier kaufen.

Charlotte Brandi – »An den Alptraum«

Charlotte Brandi © Annika Weertz
Charlotte Brandi © Annika Weertz

Ob das »Musikgeschäft« männlich dominiert ist, muss nicht infrage gestellt werden. Dass es das ist, aber definitiv. Selbst bei Aufnahmen oder Alben von All-FLINTA-Gruppen sitzt am Ende dann doch wieder ein Typ hinter den Reglern. Charlotte Brandi, ihres Zeichens erst mit der 2019er-EP »An das Angstland« zum deutschsprachigen Songwriting gewechselt, beweist, dass es auch anders geht: »An den Alptraum« wurde ausschließlich mit weiblichen oder weiblich gelesenen Personen umgesetzt – das gab es zumindest im deutschen Sprachraum so noch nicht, da fragt man sich auch. Inhaltlich legt die Künstlerin den Finger ebenfalls in die Wunde der Verkommenheit zeitgenössischen Lebens, selbstironisch, süffisant sowie humorvoll prangert sie Patriarchat, Turbokapitalismus, Wien (!) und entindividualisierende Selbstoptimierung an. Sie schafft dabei den Spagat zwischen Selbst und Gemeinschaft, zwischen Kleinem und Großem. Auch der instrumentelle Art-Pop-Klangteppich fühlt sich in diesem Dualismus wohl, zwischen A cappella und Halligalli.

»An den Alptraum« von Charlotte Brandi erscheint am 10. Februar 2023 bei Listenrecords. Aktuell keine Konzerttermine für Österreich. Hier kaufen.

Verschiedene Interpreten – »Sex mit Bekannten (Teil II)«

Sex mit Bekannten Teil 2 © Spastic Fantastic
»Sex mit Bekannten (Teil II)« © Spastic Fantastic

Das Dortmunder Punk-Label Spastic Fantastic ist nicht nur Stammgast an Ort und Stelle, sondern wird vor allem seinem eigenen, ganz schon großspurigen Namen gerecht – da darf man sich zum Anlass des 100. Releases schon einmal etwas schenken, es ist ja auch Valentinstag. Eine Compilation mit reichlich großen Namen, auch von anderen Labels, die man sich unbedingt ins Plattenregal stellen und vor allem bis zur Entwertung am Teller drehen lassen muss. Angeführt von Superstars wie Akne Kid Joe, Abriss oder Pogendroblem und vielen weiteren allerfeinsten Gruppen gibt es 50 unveröffentlichte, exklusive Songs, ein wahrer Rausch an schnellen Stücken, bis zu 13 Stück werden da pro Seite in die Rille geschmissen. Da gibt es einiges auf die Ohren, Punkverwandtes aus allen Genres von Surf über Neue Deutsche Welle bis hin zu gutem altem Hardcore sowie wunderbare Songtitel wie etwa »Ich hab bei Turnstile in den Pit geschissen« (von Schrappmesser). Mehr geht nicht.

Die Compilation »Sex mit Bekannten (Teil 2)« erscheint am 14. Februar 2023 bei von Spastic Fantastic. Hier kaufen.


Außerdem erwähnenswert:

Deichkind – »Neues vom Dauerzustand«
(VÖ: 17. Februar 2023)

Es ist das achte Album der Hamburger Ikonen, die – soweit man den Vorab-Singles Bedeutung für das gesamte Album schenken darf – ihrem Soundkleid neues Geschmeide, Federn und Accessoires beschert haben: Weniger boombratzig auf die Fresse der Konsument*innen als zuletzt mit »Wer sagt denn das?«, dafür mit Frickeleien, Jodeln und Chillhouse-Sound. Hier kaufen. Empfehlung: Recyceltes Vinyl mit unikatem Erscheinungsbild.

Die bisherigen Veröffentlichungen aus Dominik Oswalds Reihe »Muttersprachenpop« finden sich unter diesem Link.

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